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Auge in Auge mit dem Jura: Eine Landschaft entfalten

Weniger ikonisch als die Alpen und genau deshalb interessant fürs Kino: das Jura-Gebirge zieht Filmschaffende aus aller Welt magisch an, wenn sie nach einer urtümlichen Landschaft suchen. Die Solothurner Filmtage feiern ihr 60-jähriges Bestehen mit einer umfangreichen Retrospektive über die Jura-Landschaft. Wir präsentieren eine Auswahl dieses Programms und zeigen 13 Werke aus sieben Jahrzehnten, in denen der sanfte Hügelzug und wilde Westen der Schweiz als Protagonist auftritt – in den verschiedensten Rollen. Von Baselland über die Neuenburger Täler bis weit nach Frankreich erstreckt sich der Jurabogen. Klusen, Tannenwälder, unterirdische Seen und sibirische Winter prägen diesen Landstrich. Mouthe und La Brévine sind die kältesten Orte Frankreichs respektive der Schweiz. Und quer durch das französisch-schweizerische Grenzgebiet schlängelt sich der Doubs, ein Fluss, der 453 Kilometer lang ist, dessen Quelle und Mündung aber nur 90 Kilometer auseinanderliegen. Hier hinterliess der Ski- und Klippenspringer Armand Girard, der aus Le Locle stammte, ein frühes Zeugnis an jurassischen Sommer- und Winterbildern auf 35-mm-Film in Plongeons (1936). Es sind Aufnahmen eines Felsen, der steil in den Lac des Brenets abfällt. Der Mensch, in diesem Fall Girard, wird herausgefordert von der aufgefalteten Gesteinsformation. Überlebt er den Sprung aus über 40 Metern ins Wasser, ist ihm der neue Weltrekord sicher. Aber er könnte auch scheitern.

Ein junger Schauspieler
Die Retrospektive zeigt verschiedene Rollen, die der Jura auf der Leinwand spielt: Westernkulisse, Tatort, Sehnsuchtsort. Doch was ist er für ein Charakter, wie wird er gecastet? Aus geologischer Sicht ist der Jura ein junger Schauspieler – er ist erst 200 Millionen Jahre alt. Geformt wurde er, weil sich ein Meer zurückzog und sich der salzige Untergrund von zwei Seiten her zusammenschob. Das französische Erziehungsdepartement liess 1946 einen kurzen Lehrfilm über seine Biografie herstellen – Le Jura – Vignoble, plateaux, plis. Hier erfahren wir, dass die für den Jura typischen Falten – ähnlich wie beim Menschen – Ausdruck einer spezifischen Lebensgeschichte sind. Diese ist auch im Fall des Juras nicht ohne Brüche verlaufen. Davon zeugt etwa der Creux du Van, ein Krater von vier Kilometern Umfang und der vielleicht bekannteste Drehort der Region. Von einer gebrochenen Landschaft kann man beim Jura aber nicht sprechen. Viel eher verkörpert er eine offene, mitspielende Landschaft.

Tatort Jura
So geschmeidig der Hügelzug, so leidenschaftlich sind die Verbrechen, die sich darin abspielen. Mit Vergnügen empfängt der Jura Geschichten über Schmuggel und andere Formen von Kriminalität. Seine Landschaften haben das Potenzial für Stoffe im Stil von Fargo (1996) oder Twin Peaks (1990–2017). Sie sind weitläufig, dünn besiedelt und schneesicher – mitunter ein pragmatisches Argument für die Wahl dieses Drehorts. Zwei Filme im Programm inszenieren den Jura als Tatort. Einerseits Les granges brûlées (1973) von Jean Chapot, ein Krimi auf dem Land mit Simone Signoret, Alain Delon und den einfachen Zutaten Leiche, schlaue Bäuerin, Kommissar. Und andererseits L’intrus (2004, Regie: Claire Denis; Kamera: Agnès Godard), ein visuell kühnes Werk, das von Organhandel und einer global agierenden Mafia erzählt. Hier teilt sich der Jura die Hauptrolle mit der Südsee, wobei die beiden Landschaften als «transplantierte Territorien» funktionieren. «Denis‘ Film ist eine Überlagerung von inneren und äusseren, gelebten und geträumten sowie winterlichen und tropischen Gebieten, die eigentlich unterscheidbar sein sollten, stattdessen aber bedrohlich miteinander verwoben sind», schrieb die amerikanische Filmwissenschaftlerin Yasmina Price. Ist in diesem Film die Landschaft der Täter?

Wilder Westen
Wer ins jurassische Plateau hineinfährt, kann sich glücklich schätzen, eine Autopanne zu haben. Ein Pariser Architekt erlebt dies im Film Passe montagne (1978), wo er vom Jura wundersam empfangen, vielleicht sogar gerettet wird. Regie führte der französische Schauspieler Jean-François Stévenin, der in der Gegend lebte und in dessen Augen der Jura eine Westernkulisse war. Ein stimmiges Bild, wenn man bedenkt, wie oft Pferde, einsame Helden oder mächtige Frauen dieses filmische Terrain bevölkern. Insbesondere die Freiberge zeigen Merkmale einer Prärie: kaum Erhebungen und viel Weideland, sogar Büffel grasen hier. Wer in diese Landschaft blickt, verspürt «Erleichterung» – vom harten Leben oder von einem wilden Herzen – wie Rose-Hélène im ersten Langfilm L’allégement (1983) von Marcel Schüpbach. Der wahre Western des Programms ist allerdings La foire aux crinières (1969) vom Neuenburger André Paratte. 2016 verstorben, hinterliess der Regisseur eine Fülle von Auftragsfilmen, die er für die Uhrenbranche realisiert hatte. Seine heimliche Leidenschaft galt dem Natur- und Tierfilm. Die Bilder des Pferdemarkts in Saignelégier sind eine Synthese von beiden – und eine kurze Fabel über Natur und Kultur.

Natur und Industrie
«Nur in der Schweiz gibt es diese Mischung aus wilder Natur und Geschäftstreiben», schrieb Jean-Jacques Rousseau in sein Heft des einsamen Spaziergängers («Les rêveries du promeneur solitaire»). Auf dem Chasseron im Waadtländer Jura sinniert er über die guten Geschäfte, die selbst in ländlichen Regionen gemacht würden. Doch mit welchen Folgen für die Umwelt? In der Tradition seiner Gedanken lesen sich zwei mittellange Dokumentarfilme, die erstaunlich kritisch mit dem Wirtschaftswunder im Jura umgehen: Le chatelôt (1953) von Marie-Anne Colson-Malleville über den Bau des gleichnamigen Staudamms am Doubs und Les hommes de la montre (1964) von Henry Brandt über die letzten «Paysans-Horlogers», die Heimarbeiter der Uhrmanufakturen im Val de Travers. Im Lebenslauf eines Gebirges muss man die Bedeutung eines Wasserkraftwerks und die Entstehung von Fabriken vielleicht relativieren. Aufstieg und Fall der Präzisionsindustrie haben die Gesichtszüge des Juras trotzdem verändert und in seinem Wesen Melancholie hinterlassen. Greg Zglinskis Tout un hiver sans feu (Schweizer Filmpreis 2004) kombiniert Jahrzehnte später die «klassischen» Winterszenerien der Vallée de la Brévine mit den urbanisierten Landschaften der Gegend, z. B. der Stadt La Chaux-de-Fonds. Am Drehort Choindez, einer Schlucht bei Moutier, fühlt man sich an Rousseaus Vision erinnert. Die ehemalige Stahlgiesserei der Von Roll AG wird zum Schauplatz einer menschlichen Renaissance, während die Fabrik selbst als Relikt einer postindustriellen Landschaft zurückbleibt.

Resonanzraum
Wann wird eine Landschaft zur aktiven Protagonistin, wann bleibt sie Kulisse? Eine Antwort gibt der jüngste Film im Programm, der eigentlich von den Menschen handelt – L’harmonie (2013) von Blaise Harrison. Nahe der Grenzstadt Pontarlier suchen die Mitglieder eines Orchesters nach der Quelle ihrer Musikalität. Im Gegensatz zum oben erwähnten Klippenspringer Girard, der seinen gestählten Körper vom Sprungbrett warf, versuchen sie aber nicht, die Landschaft zu beeindrucken. Sie wissen, dass sie es sind, die geprägt wurden, und lassen den Jura sprechen.
Emilien Gür und David Wegmüller

Emilien Gür und David Wegmüller sind Teil der Auswahlkommission der Solothurner Filmtage. Die Jura Retrospektive haben sie gemeinsam kuratiert.