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Das erste Jahrhundert des Films: 1940, 1950, 1960 & 1970

In der Dauerreihe «Das erste Jahrhundert des Films» zeigen wir im Lauf von zehn Jahren rund 500 wegweisende Werke der Filmgeschichte. Die Auswahl jedes Programmblocks ist gruppiert nach Jahr­gängen, woraus sich schliesslich 100 Momentaufnahmen des Weltkinos von 1900 bis 1999 ergeben. Referenzzahl ist jeweils der aktuelle Jahrgang, d. h. im Jahr 2020 sind Filme von 1910, 1920, 1930 usw. zu sehen. 1940 ist der Zweite Weltkrieg in vollem Gange: Deutschland erobert mit seinen Blitzkriegen unerwartet schnell halb Europa, erleidet in der Luftschlacht um England eine Niederlage, verbündet sich mit Japan und Italien und bereitet den Genozid an den Juden vor. Propagandaminister Joseph Goebbels erklärt am Anfang des Jahres, das Medium Film sei wichtig für die Moralsteigerung im Krieg, aber auch die Gegner Nazi-Deutschlands entdecken den Film als Mittel zur ideologischen Bekämpfung der Faschisten: In den USA kommt Charles Chaplins The Great Dictator auf die Leinwand, der als erster grosser Hollywoodfilm deutlich Stellung gegen die Nazis bezieht und eine der brillantesten Filmsatiren der Kinogeschichte bleibt.
Am Broadway in New York feiert derweil Walt Disneys Musikfilm Fantasia Premiere –die Geschichten werden ohne Dialoge, einzig durch Bilder und Musik erzählt, weshalb der Film als frühe Form des Musikvideos gilt; in England produziert Alexander Korda The Thief of Bagdad, der dank der üppig ausgestatteten Dekors, der leuchtenden Technicolor-Farben und der oscargekrönten Spezialeffekte als einer der erstaunlichsten Märchenfilme in die Filmgeschichte eingeht. Im gleichen Jahr macht die überraschend leichtfüssige schweizerische Liebeskomödie Die missbrauchten Liebesbriefe von Leopold Lindtberg Furore: Der gebürtige Wiener, der als Jude von den Nationalsozialisten verfolgt wurde, wird dafür in Venedig mit der «Coppa Mussolini» ausgezeichnet.

1950
Nach Ende des Zweiten Weltkrieges setzt der Kalte Krieg ein; 1950 führt der Krieg zwischen Nord- und Südkorea zur Intervention der USA. In dieser Zeit wird die innenpolitische Stimmung in den USA von Senator McCarthy und der Suche nach angeblichen Kommunisten aufgeheizt – die Studios beugen sich dem Druck und die schwarze Liste ist geboren.
Ein herausragender Oscar-Triumph aus diesem Jahr handelt von den Intrigen und der Unmenschlichkeit hinter den Kulissen des Theatergeschäfts: Joseph L. Mankiewicz hinterfragt im hochkarätig besetzten All About Eve das Showbusiness und seine Stars mit bissiger Ironie. John Ford dagegen bringt in einer Mischung aus klassischem Western und hintergründigem Familiendrama Rio Grande auf die Leinwand, den letzten Teil seiner Kavallerie-Trilogie, die als grosse Auseinandersetzung mit der Entstehung der USA in den Jahren nach dem traumatisierenden Bürgerkrieg gilt.
Währenddessen überträgt Jean Cocteau im poetischen Orphée den Orpheus-Mythos ins Nachkriegs-Frankreich und kreiert mit einfachen filmischen Mitteln eine mysteriöse Welt aus Halbschatten, in der sich Spiegel als Tür zum Jenseits öffnen und das Irreale in den Realismus der alltäglichen Bilder drängt.

1960
Zehn Jahre später sind Freiheit und Unfreiheit die beherrschenden Themen: Zahlreiche afrikanische Kolonialstaaten werden unabhängig und in den USA beginnt mit der Wahl von John F. Kennedy zum Präsidenten eine neue Ära.
JFKs Vorwahlkampf steht im Mittelpunkt von Robert Drews Dokumentarfilm Primary. Um mit der Kamera und der Technik möglichst unsichtbar zu bleiben, entwickelt Drew Kameras und Tonbandgeräte, die kleiner und leichter zu handhaben sind als frühere Apparate, und wird damit zum Pionier des Direct Cinema.
Einen gewaltigen Schock löst in diesem Jahr ein mit einem kleinen TV-Team und unter grösster Geheimhaltung gedrehter Schwarzweissfilm aus: Alfred Hitchcocks Psycho bricht mit den Sehgewohnheiten des Publikums, wird zum Klassiker und brennt sich unauslöschlich ins kulturelle Gedächtnis ein.
Ein weiterer Psychothriller kündet im britischen Kino einen Epochenwechsel an: Michael Powells selbstreflexiver Peeping Tom löst bei seiner Premiere einen ungeheuren Skandal aus und zerstört Powells Karriere; rückblickend gesehen, ist das ein erstaunlich moderner Film über den Zusammenhang von Schaulust, Todessehnsucht und sexueller Neurose. Karel Reisz rückt in seinem Spielfilmdebüt Saturday Night and Sunday Morning die Arbeiterklasse ins Zentrum und sein aufmüpfiger Held wird zur Symbolfigur der unzufriedenen britischen Nachkriegsgeneration.
Eine Mischung aus subtilem Horror und Märchen schafft Georges Franju mit Les yeux sans visage – auch wenn es heute nicht mehr zu Ohnmachtsanfällen wie 1960 kommen wird, jagen einem die gespenstischen Bilder noch immer einen Schauer über den Rücken. Und mit einer explosiven Mischung aus Psychothriller und surrealem Gesellschaftsdrama überrascht schliesslich Kim Ki-young: Hanyo ist bis heute aussergewöhnlich in seiner intensiven Darstellung von mörderischen und sexuellen Obsessionen.

1970
In Vietnam ist die Moral der US-amerikanischen Truppen auf einem Tiefpunkt; Präsident Nixon beginnt zwar mit dem versprochenen Rückzug, sendet 1970 aber Truppen zur erweiterten Kriegsfront nach Kambodscha, woraufhin es zur grössten Antikriegsdemonstration in den USA kommt.
Bevor der Vietnamkrieg in Filmen explizit thematisiert wird, taucht er als Subtext auf, in diesem Jahr etwa in zwei bahnbrechenden New-Hollywood-Filmen: In Robert Altmans M*A*S*H sind die Anspielungen der im Koreakrieg angesiedelten Handlung auf den Vietnamkrieg unübersehbar. Die subversive Antikriegskomödie spaltet die Nation denn auch wie kaum ein anderer Film: Kriegsbefürworter rufen zum Boykott auf, während Kriegsgegner ihm zu einem nie erwarteten kommerziellen Erfolg verhelfen. Arthur Penn wiederum macht im bitterbösen Antiwestern Little Big Man mit einer überaus kritischen Sicht auf die Rolle der US-Armee auch seine Anti-Vietnamkriegs-Haltung deutlich.
Ein weiterer Antiwestern kommt vom chilenischen Filmemacher Alejandro Jodorowsky: Sein surrealer El Topo ist ein intensiver Rausch der Fantasie, der zu einem Manifest der Hippie-Kultur wird und als Midnight-Movie Kultstatus erlangt. Einen Skandal entfacht in diesem Jahr Donald Cammells und Nicolas Roegs Performance, ein klassisches Gangster-Movie in der ersten Hälfte, ein psychedelischer Cocktail aus Sex, Drugs und Rock ’n’ Roll in der zweiten. Das subversive Werk floppt, wird aber mit der Zeit ebenfalls zum typischen Midnight-Movie und gilt heute als verkannter Klassiker.
Bernardo Bertolucci gelingt mit Il conformista der Durchbruch: Sein eleganter Politthriller ist eine Abrechnung mit der Generation der Väter und dem Faschismus. Und Kurt Früh überzeugt mit Dällebach Kari: Der eindrucksvolle Film ist mit seinem bei allem humoristischen Schwung doch sehr melancholischen Unterton einer seiner poetischsten Filme und gilt auch heute noch als Meisterwerk.

Weitere wichtige Filme von 1940:
Dance, Girl, Dance Dorothy Arzner, USA
Foreign Correspondent Alfred Hitchcock, USA
Gaslight Thorold Dickinson, GB
His Girl Friday Howard Hawks, USA
Jud Süss Veit Harlan, D
Pinocchio Hamilton Luske, Ben Sharpsteen, USA
Rebecca Alfred Hitchcock, USA
Stranger on the Third Floor Boris Ingster, USA
The Grapes of Wrath John Ford, USA
The Mortal Storm Frank Borzage, USA
The Philadelphia Story George Cukor, USA
The Sea Hawk Michael Curtiz, USA
The Shop Around the Corner Ernst Lubitsch, USA
Wuthering Heights William Wyler, USA

Weitere wichtige Filme von 1950:
Asphalt Jungle John Huston, USA
Born Yesterday George Cukor, USA
Cinderella Clyde Geronimi, USA
Das kalte Herz Paul Verhoeven, DDR
Gone to Earth Michael Powell, Emeric Pressburger, GB/USA
Gun Crazy Joseph H. Lewis, USA
Harvey Henry Koster, USA
In a Lonely Place Nicholas Ray, USA
La ronde Max Ophüls, F
Los olvidados Luis Buñuel, Mexiko
Night and the City Jules Dassin, USA
No Way Out Joseph L. Mankiewicz, USA
Rashomon Akira Kurosawa, J
Schwarzwaldmädel Hans Deppe, BRD
Sunset Boulevard Billy Wilder, USA
The Breaking Point Michael Curtiz, USA
The Sound of Fury Cyril Endfield, USA
Winchester ’73 Anthony Mann, USA

Weitere wichtige Filme von 1960:
A bout de souffle Jean-Luc Godard, F (im Nov./Dez.-Programm)
Die Bösen schlafen gut (Warui yatsu hodo yoku nemuru) Akira Kurosawa, J
Die Jungfrauenquelle (Jungfrukällan) Ingmar Bergman, S
Die nackte Insel (Hadaka no shima) Kaneto Shindo, J
L’avventura Michelangelo Antonioni, I
La dolce vita Federico Fellini, I
La verité Henri-Georges Clouzot, F
Le trou Jacques Becker, F
Plein soleil René Clément, F
Rocco e i suoi fratelli Luchino Visconti, I
Spartacus Stanley Kubrick, USA
Spätherbst (Akibiyori) Yasujiro Ozu, J
The Apartment Billy Wilder, USA
The Magnificient Seven John Sturges, USA
Tirez sur le pianiste François Truffaut, F
Zazie dans le métro Louis Malle, F

Weitere wichtige Filme von 1970:
Catch-22 Mike Nichols, USA
Deep End Jerzy Skolimowski, GB/BRD
Five Easy Pieces Bob Rafelson, USA
Gimme Shelter Albert Maysles u. a., USA
Hospital Frederick Wiseman, USA
Husbands John Cassavetes, USA
L’aveu Costa-Gavras, F/I
Le cercle rouge Jean-Pierre Melville, F/I
Le fou Claude Goretta, CH
Les choses de la vie Claude Sautet, F
Patton Franklin J. Schaffner, USA
Rote Sonne Rudolf Thome, BRD
Tristana Luis Buñuel, Sp/I/F
Wanda Barbara Loden, USA
Woodstock Michael Wadleigh, USA
Zabriskie Point Michelangelo Antonioni, USA
Tanja Hanhart