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Zur Erinnerung an Doris Day: Love Me or Leave Me

Ihr letzter Auftritt in einem Kinofilm lag bereits 51 Jahre zurück, als Doris Day am 13. Mai 2019 im Alter von 97 Jahren starb. Zwei Generationen also sind aufgewachsen, seit die kühle, propere Blondine, die jahrelang der Inbegriff des prüden Hollywood der Nachkriegszeit war, von den Sixties (und vom Alter) in den Ruhestand verdrängt wurde. Das Filmpodium zeigt zur Erinnerung an Days Talent als Sängerin und Schauspielerin erstmals das Drama Love Me Or Leave Me (1955) von Charles Vidor. Doris Day war schon eine bekannte Sängerin, bevor sie 1948 nach Hollywood ging. Die meisten ihrer Filme waren Musicals, Romanzen und leichte Komödien mit Rock Hudson, James Garner oder Cary Grant, aber es gab Ausnahmen: In Hitchcocks The Man Who Knew Too Much (1956) wie auch in David Millers Midnight Lace (1960) bewährte sie sich im Krimi-Genre. Und ab und zu mutete man Day auch ernste Kost zu. Das Melodrama, das ihr am meisten abforderte und das ihr gleichzeitig am meisten Gelegenheit bot, als Sängerin zu glänzen, ist Charles Vidors Love Me Or Leave Me (1955). Day verkörpert darin die Jazz-Sängerin und Schauspielerin Ruth Etting (1896–1978). Etting kam als Landei in den 1920er-Jahren nach Chicago, wo sie in einem Nachtclub erste Erfolge auf der Bühne feierte. Ein Gangster namens Martin Snyder verliebte sich in sie und heiratete sie 1922. Als Ettings Manager pushte er ihre Karriere beim Radio, am Broadway und ab 1929 beim Film, aber sein brutales Wesen machte ihre Ehe zur Hölle. 1937 liess sich Etting von Snyder scheiden und begann eine neue Beziehung mit ihrem Pianisten Myrl Alderman. Snyder liess das nicht auf sich sitzen und übte gewaltsam Rache.
In Love Me Or Leave Me lässt Charles Vidor Doris Day also einen frühen Star des Jazz verkörpern, inszeniert ihre Gesangsnummern aber eher im glamourösen, bunten Look der 50er-Jahre als im Stil der Roaring Twenties. Day, die als junge Frau selbst Erfahrungen mit einem brutalen Ehemann gemacht hatte, konnte sich in die Figur Ettings gut einfühlen, und die Schilderung der Abhängigkeit einer Künstlerin von einem skrupellosen Machtmenschen, selbst wenn sie einige besonders unappetitliche Aspekte der Beziehung Etting-Snyder ausklammert, weist voraus auf heutige #MeToo-Schicksale. Doris Day hielt Love Me Or Leave Me offenbar für ihren besten Film, und in keinem andern finden sich so viele grossartige Songs, die ihre Stimme zur Geltung bringen.
Michel Bodmer