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René Clair zum 120. Geburtstag

«Auch ohne Ihren Namen im Vorspann hätte ich Ihren Stil in zwei Minuten erkannt.» Das sagte Charles Chaplin 1942 zu René Clair nach der Premiere von dessen Komödie I Married a Witch. Tatsächlich hat Clair (1898–1981) als Autorenfilmer schon zur Stummfilmzeit eine Handschrift entwickelt, die auch seine Spätwerke kennzeichnet: eine Poesie und Leichtigkeit, oft mit pointiertem Witz kombiniert, und die souveräne Beherrschung der Ausdrucksmöglichkeiten von Bild und Ton, die gerne gegeneinander ausgespielt werden. Am Prozess, den seine Produzenten gegen Charles Chaplin anstrengen wollten, mochte René Clair sich nicht beteiligen. Dieser hatte sich für Modern Times von seiner Satire À nous la liberté inspirieren lassen, hatte gar schlankweg die tragikomische Fliessbandszene daraus übernommen. Aber Clair fühlte sich nicht bestohlen, sondern geehrt: Chaplin habe ihn so sehr beeinflusst, da sei er stolz und glücklich, nun auch seinerseits dessen Fantasie beflügelt zu haben.
Diese Geste verrät nicht nur grosse Noblesse, sondern auch Clairs tiefe Verbundenheit mit dem frühen Kino von Chaplin, Griffith, Méliès oder Feuillade. Es ist für ihn eine Wunderkammer erzählerischer Vorstellungskraft, ein Versprechen auf die rasanten Fortschritte, welche die Filmsprache machen wird. In Le silence est d’or erweist er den Anfangsgründen des Kinos seine Reverenz, jenem «Heldenzeitalter des französischen Films» (Clair), als die vergnügungssüchtige Belle Époque eine neue Attraktion entdeckt, die anfangs noch ein Jahrmarktvergnügen ist, das in Zelten aufgeführt wird.

Ein gelehriger Meister
Clair selbst prägt das Stummfilmkino noch entscheidend mit. In den 1920er-Jahren ist er so jugendlich-ungestüm wie das neue Medium, dem er sich verschrieben hat. Er schöpft dessen visuellen Reichtum im Avantgarde-Stück Entr’acte und der luftig-surrealen Groteske Paris qui dort nicht nur aus, sondern erweitert ihn erfinderisch. Auch als Pionier des Tonfilms gelingt es ihm, die magische Aura des stummen Kinos zu bewahren. Mit Sous les toits de Paris geht er 1930 gleich aufs Ganze: Toneffekte und Dialoge genügen ihm nicht, auch Gesang und Musik sollen eine volkstümliche, selbstverständliche Präsenz als Bestandteile des urbanen Lebens erhalten.
Quatorze juillet aber demonstriert zwei Jahre später, dass Clair die Geheimnisse des Stummfilms nicht vergessen hat. Die Pantomime des betrunkenen Lebemannes (eine veritable Chaplin-Figur), der sein Geld so freigebig verteilt wie seine Visitenkarten, die verhinderten Betrügereien zweier Taschendiebe, die tragisch sich verpassenden Blicke der Liebenden – sie alle demonstrieren, dass sich das Entscheidende ohne Dialoge inszenieren lässt. Der nächtliche Überfall auf das Bistro ist ein Kabinettstück des visuellen Erzählens: Die heruntergelassenen Fensterläden verhindern, dass Clairs Held in der Kellnerin seine verlorene Geliebte erkennt. Dass im Verlauf eines Handgemenges das mechanische Klavier anspringt und den Besitzer alarmiert, ist wiederum eine treffliche Tonfilmidee.
Es geht Clair um «reines» Kino, das zwar an die Traditionen der etablierten Künste anknüpft, sich aber zugleich stolz abgrenzt und als eigenständige Kunstform behauptet. Zu dieser «épuration» (Reinigung, Klärung) gehört, dass die Erzählelemente – wie im Märchen – auf eine vibrierende Einfachheit reduziert sind, die es Clair erlaubt, die Essenz einer Figur, eines Ortes, eines Milieus oder einer sozialen Klasse zu erfassen. Deshalb konnte sein Stil auch so leichtfüssig im englischen und amerikanischen Kino heimisch werden.
Clair ist ein Avantgardist, der das grosse Publikum sucht. Zeitlebens wird er sich in Artikeln und Essays Rechenschaft ablegen über die Errungenschaften der eigenen Kunstform und deren Fortschritte neugierig begleiten. Er ist ein ästhetischer Wanderer zwischen den Zeiten, gerade so wie der träumende Gérard Philipe in Les belles de nuit: In seinen Filmen ist nicht nur die Vergangenheit stets gegenwärtig; sie spielen immerfort auch zu Utopie und Zukunft hinüber. Umso erstaunlicher ist es, dass er seit geraumer Zeit aus der Mode gekommen zu sein scheint. Bertrand Tavernier rechnet ihn in Voyage à travers le cinéma français (2016), einer ebenso persönlichen wie monumentalen Geschichtsschreibung, gar den grossen Vergessenen des Nachkriegskinos zu. 120 Jahre nach seiner Geburt reiht Clair sich dezent ein in den ehrwürdigen Kreis der berühmten Unbekannten des Kinos.

Paris ist ein Dorf
Geboren wird Clair am 11. November 1898 als René Chomette, Sohn eines Seifenhändlers im Pariser Viertel Les Halles. Mit sieben Jahren schreibt er erste Stücke fürs Puppentheater. Mit 16 steht für ihn fest, dass er Dichter werden will. Nach dem Ersten Weltkrieg arbeitet er zunächst als Journalist, bald auch als Filmkritiker und verfasst Chansontexte. Im Kino debütiert er als Darsteller bei Feuillade (ab 1921 als René Clair) und Jakow Protasanow, dreht dann erste eigene Filme mit Erik Satie, Man Ray und Marcel Duchamp. Sous les toits de Paris macht ihn weltberühmt. In Frankreich löst der Film übrigens anfangs kaum Begeisterung aus, in Berlin jedoch spielt er innerhalb eines Tages seine gesamten Produktionskosten ein.
Der Kritiker Willy Haas rühmt Clairs Kino daraufhin als «die diskreteste Propaganda für Paris». Das gilt vor allem, aber nicht ausschliesslich, für die frühen Tonfilme, mit denen Clair das Terrain bereitet für den Poetischen Realismus Jacques Préverts, Marcel Carnés und Jean Renoirs. Er zeichnet ein rechtschaffen sentimentales Bild des volkstümlichen Paris, erschliesst dem Kino die Poesie der Strassen, der kleinen Handwerksbetriebe, Bistros und Geschäfte. Er ist einer der ersten französischen Regisseure, die ein persönliches, wiedererkennbares und beständiges Universum entwerfen. Es ist eine Welt, die so klein und überschaubar ist, dass auch der haarsträubendste Zufall noch plausibel erscheint.
Den frühen Tonfilmen ist ein heiterer, zärtlicher und zuweilen burlesker Tonfall zu eigen, aber schon im Augenblick des Filmens scheint Clair die Vergänglichkeit dieser Idylle zu ahnen. Mit Quatorze juillet findet der Zyklus sein vorläufiges Ende; 1957 knüpft Clair mit Porte des Lilas noch einmal daran an, jetzt mit gebrochener, aufgeklärter Nostalgie. Da versucht er nachdrücklich, wieder zum Zeitgenossen seines Publikums zu werden, nachdem er es bis anhin in die Vergangenheit entführt hat, vorzugsweise in die prunkende Belle Époque von Le silence est d’or und Les grandes manœuvres.

Nutzlos? Unverzichtbar!
Obwohl er einen Dokumentarfilm über den Eiffelturm gedreht hat und beinahe den Neorealismus vorweggenommen hätte (wäre nicht der Zweite Weltkrieg dazwischengekommen), ist für Clair das Kino ein Medium der Fantasie, wo sich der Traum wundersam in den wachen Alltag fügt.
Seine Filme, schreibt er einmal, seien so vollkommen nutzlos wie eine Nachtigall oder eine Blume. Ihr vornehmstes Mandat sind Eleganz, Ironie und Raffinement. So erfindet er Geister, die den Atlantik überqueren, heiratsfähige Hexen und Zeitungen, die heute schon berichten, was morgen passiert. Körperliche Arbeit spielt eine zentrale Rolle in seinem Werk; indes ermüdet sie niemanden. Wenn er von Traum und Realitätsflucht erzählt, tut er das in dem Wissen, dass sie kein endgültiger Ausweg sind. Die vorgebliche Naivität seines Kinos ist grundiert in intellektueller Schärfe; nicht von ungefähr wird er als erster Filmemacher in die Académie française gewählt. Sein Stil ist federleicht, aber er lässt Dramatik und Melancholie grosszügig Raum. Bei René Clair steht die Komik unter dem Vorbehalt der Lebensnähe. Das musste er nicht erst von Chaplin lernen.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.