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John Waters

Der Bürgerschreck aus Baltimore

Sind John Waters’ Spielfilme mehr als nostalgische Erinnerung an jene Tage, als das Provozieren noch geholfen hat? In der Tat, gilt es doch einen Mann zu preisen, der auszog, die Welt in den Dreck zu ziehen, und der bis heute der Sprengkraft des Andersseins huldigt. Das Kunsthaus Zürich widmet dem einstigen Enfant terrible derzeit eine Ausstellung. Der Stein des Anstosses hiess 1972 Pink Flamingos. Mit diesem Film erregte der 1946 in Baltimore geborene John Waters die Aufmerksamkeit sowohl der Zensur wie auch des Mitternachtskino-Publikums: Im alsbald entfesselten Shitstorm eroberte er jene Gemeinde, die mit dem kultischen Abfeiern seltsamer Kunst- und Trashfilme bürgerliche Konventionen, aber auch die Blümchen-Hippieromantik verhöhnte. Der Durchbruch war unvermeidlich, bot Pink Flamingos den Underground-Fans mit dem mörderischen Wettbewerb zwischen Hühnerfickern, Scheissefressern und singenden Arschlöchern um den Titel «ekligste Menschen überhaupt» doch in jeder Hinsicht die volle Dröhnung.
Pink Flamingos war damals der erste deutliche Ausschlag in einer erstaunlichen Karriere. Seitdem nämlich galt Waters als jenes Ferkel, das die Szene drehte, in der ein dicker, geschminkter Mann in Frauenkleidern hinter einem scheissenden Hund zweifelsfrei echte Kacke aufsammelt, in den Mund schiebt und dort wie Pralinen zergehen lässt. Dieser Film machte Waters zu einem Pfeiler des Undergrounds. Seine fast schon religiöse Hingabe an die Obsession, sein unbedingter Wille zum Abseitigen bewog Beatnik-Halbgott William S. Burroughs denn auch, Waters mit dem Titel «Pope of Trash» zu adeln.

Perversionen der Provinz
Pink Flamingos und dessen «Star» Divine sind frühe Auswürfe der später als «Punk» gelabelten Leck-mich-Haltung. Natürlich hatte Punk viele Mütter und Väter, die von Waters geschätzte New Yorker Szene um Andy Warhol mit Filmern wie Paul Morrissey beispielsweise. Doch während diese früh schon cool, weltgewandt und publicitygeil gegen die etablierte Kultur (und Gegenkultur) antrat, gewannen Waters’ Ausgeburten ihre rohe Energie aus dem gierigen Blick auf die Perversionen der Provinz, aufs Kleinbürgertum in Baltimores Vorstädten. Suburbia war Waters’ Sündenpfuhl, sein Tempel der Lust, der Ort, der seine Obsessionen befeuerte.
Zwar inspirierten den Teenager Wallfahrten nach New York, wo er sich Pornos, Trash-Filme und die bizarren Ergüsse von Seelenverwandten wie den Kuchar-Brüdern gönnte. Auch steht ein abgebrochenes Filmstudium an der NYU in seiner cineastischen Vita. Letztlich jedoch war es immer wieder Baltimore, um das sich der Planet Waters drehte und wo er am besten dem von Jean Genet übernommenen Grundsatz nachleben konnte, wonach «in schlechtem Geschmack Harmonie zu erzielen die höchste Form von Eleganz ist».
Hier, auf örtlichen Schrottplätzen, konnte Little John «Autos ankucken, die auf dem Dach lagen». An Kindergeburtstagspartys in der Nachbarschaft kassierte er ab für Puppentheatervorführungen einer blutrünstigen Version von «Aschenputtel». Sobald er fahren durfte, parkte er zusammen mit Freunden, die sein Interesse an Drogen und Ladendiebstahl teilten, jede Nacht im Autokino des Viertels. Dort spielte man Preziosen wie Russ Meyers Faster, Pussycat! Kill! Kill!, die für Waters’ Herzensbildung massgebend wurden. Hier nämlich erkannte er das komische Potenzial von Film-Trash, was ihn in der Überzeugung bestärkte, dass «schlechter Geschmack der Kern aller Unterhaltung» sei.
Schon seine frühen Schmalfilm-Exzesse wie Eat Your Makeup (1968), Mondo Trasho (1969) oder Multiple Maniacs (1970) verbanden – neben Gewalt, Sex und derbem Witz – eine Amateurdarstellertruppe, deren Mitglieder Waters im lokalen Freundeskreis rekrutierte. Kuriosen Gestalten wie Mink Stole, David Lochary, Mary Vivian Pearce und insbesondere Harris Glen Milstead, besser bekannt als Divine, gelang dabei das Kunststück, die von Waters geforderte Obszönität, Gewalt und Perversion so verdreht theatralisch ins Bild zu rücken, dass dies, vor dem Hintergrund des rauen Realismus von Schrottplätzen und untermalt mit Rockabilly-Nummern, einfach nur zum Lachen war.
Auf Pink Flamingos folgten mit Female Trouble (1974) und Desperate Living (1977) zwei weitere Trash-Grosstaten. Female Trouble war dabei ganz auf Divine, den Star von Pink Flamingos, zugeschnitten, der als schwangere Schulausreisserin für die Kamera eines perversen Kosmetikerpaares die Verbrechen krimineller Frauen nachstellte. Edith Massey, ein weiterer übergewichtiger Freak aus Waters’ Umfeld, spielte dann im Märchen Desperate Living die tyrannische Königin, die über die Müllhaldenkolonie Mortville gebietet, in die eine Mittelstands-Hausfrau nach der geglückten Ermordung ihres Gatten flüchtet. Zum ersten Mal überliess Waters die Kameraarbeit einem Berufsmann; dafür machte sich Divine rar.

Gegen den guten Geschmack
Zu Beginn der achtziger Jahre, nach dem Erfolg von zu monumentaler Grösse aufgeblasenen B-Movies wie Jaws und Star Wars, befand sich die Filmindustrie im Blockbuster-Fieber. Die Einverleibung ästhetischer und politischer Strategien des Billigfilms in die Hollywood-Ökonomie veränderte den Underground. Waters musste die Tonlage ändern, wollte er nicht im Mitternachtsfilm-Ghetto hängen bleiben. So enterte er 1981 mit Polyester das Mainstreamkino, indem er – einmal mehr und diesmal wieder mit Divine – seine Frustrierte-Vorstadt-Hausfrau-Nummer durchzog. Erneut zerbricht also ein Kleinbürgerglück
Für Polyester gab es ein Budget, mit Tab Hunter einen Quasi-Hollywoodstar und mit der Odorama-Rubbelkarte jenen Gimmick («Geruchskino»!), den der Verleiher zusammen mit dem Film landesweit in die Hauptabendvorstellungen karrte. Gleichzeitig fungierte Divine wieder als Dreh- und Angelpunkt und bürgte dafür, dass zwar nicht der schmutzige Sex, aber der abseitige Humor der frühen Produktionen erhalten blieb. So gelang Waters, ähnlich wie den Mitternachtsfilmern George R. Romero und David Lynch, die Weiterentwicklung im Breitleinwand-Massstab, ohne dass er seine Obsessionen hätte verraten müssen.
Als er sieben Jahre später mit Hairspray einen weiteren Kinofilm realisierte – zwischenzeitlich hatte Waters seine Produktion auf andere Kunstgebiete ausgeweitet –, war es der erste einer ganzen Reihe überschwänglicher Rückblicke auf ein Leben in Opposition zu Geschmack und Anstand: 1990 Cry-Baby, 1994 Serial Mom, 1998 Pecker, 2000 Cecil B. DeMented und 2004 A Dirty Shame. Zusammen bilden diese Filme eine fröhlich-frivole Revue durch all jene Obsessionen und Glaubenssätze, die Waters zum Schöpfer seines eigenen Mythos haben werden lassen – und der, wie es Jonathan Rosenbaum und J. Hoberman in ihrem Buch «Mitternachtskino» schreiben, «darum weiss».
Und weil er darum weiss, pflegt Waters seinen eigenen Mythos gelassen. Nicht indem er sich und seine Obsessionen der allgegenwärtigen Retromania zur Ausschlachtung überlässt. Im Gegenteil. Zusammen mit überlebenden und neu dazugekommenen Freunden erzählt Waters, ungemein unterhaltend, weiter und weiter von der revolutionären Kraft des Abseitigen, des Andersseins, und verführt so zum Widerstand gegen all jene auf Gleichförmigkeit getrimmten Zombies, die die Welt in eine Einöde des gepflegten Geschmacks zu verwandeln drohen.
Benedikt Eppenberger

Benedikt Eppenberger ist Filmredaktor beim Schweizer Radio und Fernsehen und arbeitet daneben als freischaffender Filmjournalist und Cartoonist.