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Inselfilme: Kleine Welten

Wer von Inseln spricht, wird Klischees nur mit Mühe umschiffen. Seit der Antike zählt die Insel zu den beliebtesten Topoi von Dichtung und Kunst, egal ob als Platzhalter des Paradieses oder als Hort der Hölle. Das Museum Strauhof widmet dieser Tradition in der Literatur eine Ausstellung Strauhof; das Filmpodium zeigt ergänzend dazu eine Auswahl von Filmen, die auf Inseln spielen – und die man auf die sprichwörtliche einsame Insel mitnehmen möchte. Wie in der Literatur ist das Eiland auch im Kino Projektionsfläche für allerlei Fantasien. Ob als «ou-topos», ein erfundener Nicht-Ort wie in Thomas Morus' «Utopia», als paradiesisch idealisierter «eu-topos» oder als infernalischer «dys-topos», in dem sich Ängste verdichten, immer erscheint die Insel als das Andere, als Gegenentwurf zur bekannten Wirklichkeit – oder als satirische Überhöhung derselben.
Die Exotik des Anderen lockt zivilisationsmüde Westler seit je. Kaum ein Ort scheint so reizvoll wie das Südsee-Idyll Tahiti. F. W. Murnau und Robert J. Flaherty inszenierten dort mit Tabu eine Romanze, die im «Paradies» beginnt und in der Realität tragisch endet. In Lewis Milestones Mutiny on the Bounty inspiriert Tahiti die Mannschaft und den Ersten Offizier Fletcher Christian zur Meuterei, doch die Abtrünnigen werden nicht glücklich. Noch expliziter wird die Kritik an der Ausbeutung der Tropeninseln in Gillo Pontecorvos Queimada: Im Auftrag der britischen Handelselite wiegelt ein Söldner auf einer Antilleninsel Sklaven gegen die portugiesischen Zuckerbarone auf; später muss er selbst den unliebsam gewordenen Rebellenführer loswerden. In Island of Lost Souls von Erle C. Kenton praktiziert Charles Laughton als Arzt nicht nur unmenschliche – und prophetische – medizinische Experimente; peitschenknallend in weisser Kluft erscheint er als arroganter Kolonialherr schlechthin.
Die Isolation – im Wortsinn – bewahrt archaische und/oder abartige Kulturen und Sitten, wie etwa die geheimnisvollen Voodoo-Riten in Tourneurs I Walked with a Zombie. Die hippieähnlichen Insulaner in Robin Hardys legendärem The Wicker Man frönen keltisch-heidnischen Vorstellungen von Sex, Leben, Tod und Wiedergeburt. Kaneto Shindos Die nackte Insel schildert das harte Leben einer Kleinfamilie, die auf einem kargen Eiland Ackerbau zu betreiben versucht. Noch unerbittlicher sind die Zustände auf Sardinien in Paolo und Vittorio Tavianis Padre padrone, ihrer Parabel über die Emanzipation des Hirtenjungen Gavino von seinem tyrannischen Vater. Ob sie aufs Festland auswandern, entscheiden die Bewohner einer unwirtlichen Nordseeinsel in Michael Powells The Edge of the World, indem sie ein Wettklettern zweier Männer an den 400 Meter hohen Klippen veranstalten.

Liebe, Lust und Tyrannei
Auf Inseln schwingen sich gerne Despoten auf; je kleiner das Reich, desto leichter ist es zu beherrschen. Eine weltabgewandte Diktatur zeichnet Walerian Borowczyk in Goto, l’île d’amour, seiner surrealistisch-kafkaesken Parabel um Macht, Liebe und Grausamkeit. Um Tyrannei und Rache dreht sich auch Prospero’s Books, Peter Greenaways Vision von Shakespeares «The Tempest»: Der verbannte Zauberer holt seine einstigen Peiniger mit einem Sturm auf seine Insel und macht ihnen das Leben zur Hölle. Als Revier für eine perverse Menschenjagd nutzt der grausame Graf Zaroff sein Eiland in The Most Dangerous Game.
Abgeschnitten vom Rest der Welt und auf engem Raum können sich Konflikte zuspitzen oder auch – fern vom Druck verfeindeter Gruppen – entschärfen. In Luis Buñuels Robinson Crusoe wird der britische Herrenmensch aus seinem System herausgerissen und kann darum dem Eingeborenen Freitag auf Augenhöhe begegnen. Umgekehrt läuft es in Lord of the Flies, Peter Brooks Adaptation von William Goldings Roman, in der gestrandete britische Schuljungen binnen Monaten regredieren und sich gegenseitig umbringen. Kinji Fukasaku wiederum lässt in Battle Royale die überforderten Erwachsenen ungehorsame Schüler auf einer Insel aussetzen, auf dass sie einander töten.
Es dreht sich auf Inseln freilich nicht alles um Leben und Tod; oft keimen dort auch zarte Gefühle und ungeahnte Freuden. Michael Radford lässt in Il postino einen ungebildeten Postboten die Poesie als Schlüssel zur Liebe entdecken, und mit viel Sinnenfreude inszeniert Julio Medem in Lucía y el sexo die Insel Formentera als Schauplatz unvergesslicher Höhepunkte der Lust. Womit wir die Küstenlinie des Topos umrundet hätten und wieder beim Ausgangspunkt angelangt wären, dem Paradies ...
Michel Bodmer