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George Cukor: Der grosszügige Blick

George Cukor (1899–1983) war einer der Grossen – für manche der Grösste – unter den Regisseuren des klassischen Hollywood. Das Filmfestival von Locarno hat ihm kürzlich eine vollständige Retrospektive gewidmet, aus der wir die 25 schönsten Filme ausgewählt haben: unvergängliche Klassiker wie The Philadelphia Story, A Star Is Born oder My Fair Lady, doch auch Wieder- und einzelne Erstentdeckungen wie die erstaunlichen Frühwerke The Virtuous Sin und Tarnished Lady oder die Emanzipationsgeschichten A Life of Her Own und The Chapman Report. Anfang der 1940er Jahre, es muss kurz vor den Dreharbeiten zu The Philadelphia Story gewesen sein, setzte George Cukor ein lang gehegtes Vorhaben in die Tat um: Innerhalb weniger Monate nahm er über dreissig Kilo ab. Bis dahin war er ein Sportverächter gewesen. Nun liess er in seiner Villa einen Gymnastikraum einrichten und engagierte einen französischen Trainer. Endlich nutzte er auch den Swimmingpool, der sonst seinen Gästen vorbehalten war. Zugleich, und das fiel ihm weit schwerer, hielt er eine strenge Diät ein.
Der Regisseur war als Leckermaul bekannt. Toningenieure wussten zu berichten, wie oft sie Filmaufnahmen abbrechen mussten, weil sein Magen während der Dreharbeiten zu laut knurrte. Besonders gern mochte er Spezialitäten aus Ungarn, der Heimat seiner Eltern: schwere Sahnetorten, kandierte Früchte und Salami. Cukor blieb ein grosszügiger Gastgeber, in seinem Haus wurde weiterhin lustvoll getafelt. Er selbst jedoch hielt sich zurück. Aus dem rundlichen, jungenhaft wirkenden Mann, den man noch auf Setfotos aus den dreissiger Jahren sehen kann, wurde so ein gepflegter, vornehmer Herr. Er war freilich keine asketische Erscheinung, sondern sah aus wie ein Genussmensch, der sich zu beherrschen weiss.
Von Schauspielern weiss man ja, wie heftig sie bisweilen mit ihrer Figur ringen. Bette Davis wurde von Warner Bros. regelmässig auf Diät gesetzt; Aldo Ray musste gehörig abspecken, bevor er unter Cukors Regie seine Filmkarriere begann. Und Gladys Glover (Judy Holliday) entgeht in It Should Happen to You das Engagement für einen Werbefilm, weil ihr Hüftumfang zwei Zentimeter zu viel misst. Im Regiestuhl hingegen muss Leibesfülle kein Handicap sein. Cukor hatte also persönliche Gründe für seine Entscheidung. Eitelkeit mag hierbei eine Rolle gespielt haben. Gewiss folgte der diskrete Homosexuelle Cukor einem eigenen Ideal von Schönheit und Eleganz. Vielleicht aber hatte er auch einfach Lust daran, sich neu zu erfinden. Immerhin ist die Verwandlung – gleichviel, ob eine äusserliche, moralische oder intellektuelle – ein zentrales Thema, das sich von Sylvia Scarlett bis My Fair Lady durch sein Werk zieht.

Das Glück der Vielseitigkeit
Cukors Filme wurden fortan nicht schlanker. Warum sollten sie auch? Gleichwohl legte er eine neue Gangart ein. Während er in den dreissiger Jahren vor allem durch prestigeträchtige Literaturverfilmungen und raffinierte Gesellschaftskomödien bekannt geworden war, wendet er sich während des Zweiten Weltkriegs eher düsteren, melodramatischen Stoffen zu. Mit Adam's Rib, der am Anfang einer ganzen Serie zeitgenössischer Komödien steht, hellt sich einige Jahre später der Erzählton wieder auf. Gleichzeitig nimmt er die Herausforderung an, an Originalschauplätzen zu drehen. Ab Mitte der 1950er Jahre schliesslich beginnt er, die Erzählmöglichkeiten von Farbe und Cinemascope auszuschöpfen.
Im Verlauf seiner fünfzig Jahre andauernden Karriere wandelte sich das Antlitz seines Kinos so häufig, dass es den meisten Historikern schwerfällt, Cukor als «auteur» zu feiern. Daran war ihm auch gar nicht gelegen. Er war selbstbewusst genug, um eine eigene Handschrift in unterschiedlichen filmischen Idiomen zu hinterlassen. Er verstand sich nicht als Vormund seiner Leinwandfiguren, sondern sprach durch deren Darsteller. Dass er ein einzigartig begabter Schauspielerregisseur war, ist ein Klischee, dass sich mit dem Sehen jeder seiner Filme erneut bestätigt. Niemand verstand es wie er, unterschiedliche Temperamente und Techniken vor der Kamera zu Harmonie zu führen.
Während die Studios vor allem Wert darauf legten, dass er die Attraktionen der Filme zur Geltung brachte – grosse Stars, brillante Dialoge, verschwenderisch drapierte Dekors –, blieb Cukors Stil doch unbeirrbar. Er geht mit einer unverwechselbaren visuellen Vorstellungskraft ans Werk. Sein Gespür für das Timbre eines Augenblicks ist nahezu unfehlbar. Die Grosszügigkeit seines Blicks offenbart sich zumal in Ensembleszenen, in denen er den Fokus der Aufmerksamkeit behände zu verschieben weiss, ohne die Übersicht zu verlieren. Wechsel in Erzählton und Atmosphäre bewältigt er mühelos. Dialogkomödien, die ihre Bühnenherkunft nicht verhehlen wollen, eröffnet und durchsetzt er oft mit pantomimischen Episoden. Tempo und Rhythmus der Szenen sind stets schon in seiner Inszenierung vorgegeben, müssen nicht erst im Schneideraum hergestellt werden. Agil folgt die Kamera in langen Plansequenzen den Darstellern. Aber auch eine starre Einstellung kann bei ihm ungeheure filmische Dynamik gewinnen. Eine der Sternstunden des Hollywoodkinos ist jene Sequenz aus Adam's Rib, in der die Angeklagte (Judy Holliday) ihrer Anwältin (Katharine Hepburn) erzählt, weshalb sie auf ihren Ehemann geschossen hat. Holliday ist so übersprudelnd temperamentvoll und Hepburn eine so engagierte Zuhörerin, dass kaum auffällt, dass diese achtminütige Szene ohne einen einzigen Schnitt auskommt.
Eine solche Szene führt auch vor Augen, wie viel Cukors Kino seinen Lehrjahren als Bühnenregisseur zu verdanken hat. Das Theater ist auch eine thematische Konstante seines Werks: Oft spielen seine Filme in Theaterkreisen; Rollenspiel und Verstellung sind zentrale Motive. Niemand hat so bestechend wie er in A Star Is Born und Les Girls auf der Leinwand das Erlebnis eingefangen, wie einem Darsteller die Lichter der Bühne entgegenstrahlen. Auch mit anderen Künsten hält sein Kino jedoch Zwiesprache: Einige Einstellungen von Bhowani Junction sind von Gemälden Goyas inspiriert; in Les Girls zitiert er John Singer Sargents Bild «El Jaleo».

Mehr Champagner!
Tatsächlich sind die thematischen Überschneidungen in seinem Werk vielfältig. Born Yesterday und Wild Is the Wind erzählen in unterschiedlichen Genres davon, wie weibliche Protagonisten sich in einer fremden Umgebung bewähren. Das Musical Les Girls greift die Grundidee von Rashomon auf, auch das Indienepos Bhowani Junction wird aus drei unterschiedlichen Perspektiven erzählt. Cukors Gesellschaftsporträts zielen auf eine Gleichstellung der Geschlechter und Klassen. Seine Sympathie gehört dabei den Unruhestiftern, die soziale Konventionen abstreifen und Tabus übertreten. Der Blick dieses überaus kultivierten Regisseurs auf proletarische Figuren ist frei von Herablassung. Vielmehr bewundert er die vorgebliche Vulgarität der Charaktere, die Holliday oder Jean Harlow bei ihm spielen, als Ausdruck ihrer ungezwungenen Vitalität.
Einen solch anarchischen Elan können die meisten seiner Figuren allerdings nur unter dem Einfluss von Alkohol entwickeln. Dessen möglichen tragischen Folgen sind Cukor zwar bewusst – man denke nur an James Masons grossartige Studie eines trunksüchtigen Filmstars in A Star Is Born –, aber als Chance zur Realitätsflucht und Veränderung der Selbstwahrnehmung sind Rauschzustände den Charakteren meist willkommen. In Holiday etwa wirkt ein heiterer Exzess als Befreiung aus einem eingehegten Gefühlsleben. Nach einigen Gläsern Champagner erlebt Tracy Lord in The Philadelphia Story einen heilsamen Kontrollverlust. Der Rausch ist bei Cukor in der Regel ein grosser Gleichmacher, der die sozialen Hemmungen löst und Verdrängtes zu Tage fördert. «There's nothing like champagne», sagt der routinierte Verführer in It Should Happen to You, worauf ihn die Angesprochene keck korrigiert: «Yes, more champagne!» Als freigebiger Gastgeber wird Cukor ausführlich Gelegenheit gehabt haben, die Wirkung des Alkoholgenusses zu studieren. Obwohl er selbst natürlich auf seine Linie achtete.
Gerhard Midding

Gerhard Midding ist freier Filmjournalist in Berlin und schreibt regelmässig fürs Filmpodium.