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Daniel Auteuil: Der Zweifel als Triebfeder

Gequält, unwohl in der eigenen Haut, oft schäbig und verschlagen: Die Männer, die Daniel Auteuil spielt, sind nicht die typischen Sympathieträger. Die grosse Kunst des 1950 geborenen Charakterdarstellers liegt darin, den unterschiedlichsten Figuren Wahrhaftigkeit zu verleihen und ihre Verletzlichkeit freizulegen – gerade auch in seinen Komödienrollen. «Jeder Take ist für mich ein Todeskampf», vertraute er mir einmal in einem Interview an. Das muss man nicht für bare Münze nehmen. Schliesslich hat dieser Schauspieler in fast vier Jahrzehnten über neunzig Filme gedreht. Wie lässt sich ein solches Pensum bewältigen, wenn man bei jeder Aufnahme eine Heidenangst überwinden muss? Im Hinterkopf darf man die Behauptung gleichwohl behalten.
Daniel Auteuils Karriere ist eine Flucht nach vorn, ein Triumph über die eigene Schüchternheit. Falls für ihn das Spielen tatsächlich angstbesetzt sein sollte, dann hat er diese Furcht souverän in Euphorie und Dringlichkeit verwandelt. Mitunter scheint es, als würde er vor der Kamera eine kindliche Abenteuer- und Verwandlungslust wiederentdecken. Seine Spielfreude ist nicht zu verwechseln mit jener Unersättlichkeit, die sein ewiger Rivale und häufiger Gegenspieler Gérard Depardieu zu einem veritablen Lebensentwurf gemacht hat. Sie erzählt vielmehr vom Glück der Überwindung. Das hat glänzend funktioniert. Seine ersten Erfolge feierte er in extrovertierten Komödienrollen. Und seinen zweiten César erhielt er nicht von ungefähr für eine Rolle, in der er lustvoll dem Affen Zucker geben konnte: die des selbstgewissen Gauklers und exzentrischen Pygmalion in La fille sur le pont.
Ihm blieb womöglich keine andere Wahl, als Komödiant zu werden. Seine Eltern waren Opern- und Operettensänger, er trat schon als Kind an ihrer Seite auf und spielte im Alter von 16 Jahren seine erste grosse Bühnenrolle in einem Einakter von Tschechow. Bald liess er das heimatliche Avignon hinter sich, um in Paris das Kino zu erobern. Sein Ehrgeiz zielte auf unbedingte Präsenz; es war ihm lieber, eine tragende Rolle in einem mittelprächtigen Film zu spielen als eine kleine Rolle in einem hervorragenden. (Le paltoquet ist einer der wenigen Ensemblefilme, in denen er sich in seinem Element zu fühlen scheint.) Seinen Durchbruch erlebte er mit Mitte dreissig als Ugolin in den Marcel-Pagnol-Verfilmungen Jean de Florette und Manon des sources. Die Verspätung, mit der sich der grosse Erfolg einstellte, war ein Glück. Nun besass er Erfahrung und Reife. Die Scheu hatte er längst gemeistert, aber der Zweifel durfte eine mächtige Triebfeder bleiben.

Darstellung als Parteinahme
Er konnte ein Filmstar werden, ohne eine Sehnsuchtsfigur zu sein. Oder hat man je von einem Zuschauer gehört, der davon träumt, Daniel Auteuil zu sein? Sein Gesicht ist ganz und gar nicht ebenmässig, seine Nase sogar schief; seit einem Unfall in der Jugend trägt er eine Doppelnarbe über der Oberlippe. Bisweilen ist in seinen Filmen gar die Rede von der Hässlichkeit seiner Figuren, etwa von Ugolin oder von Henri de Navarre in La Reine Margot. Besonders hoch gewachsen ist er auch nicht: Auf Gruppenfotos der diesjährigen Jury in Cannes konnte man feststellen, dass ihn seine Kollegin Nicole Kidman beinahe um Haupteslänge überragt.
Überdies verwehren seine Figuren dem Zuschauer eine leichte Identifikation. Es fällt oft schwer, sie zu mögen; sie können zu grosser Schäbigkeit und Verschlagenheit fähig sein. Für Claude Sautet hat er Charaktere gespielt, die mutwillig ihre freundschaftlichen und erotischen Beziehungen vergiften; halb aus unausgelebter Sehnsucht, halb aus Lust an der Manipulation. Die Protagonisten von Quelques jours avec moi und Un cœur en hiver scheinen dem eigenen Leben nur mehr beizuwohnen, schlagen Nähe und Gemeinschaft grausam aus. Auch André Téchiné ist fasziniert von dem beinahe autistischen Zug, der Auteuils Leinwandpersona zu eigen sein kann. Das Innenleben Antoines in Ma saison préférée ist kaum in Übereinstimmung zu bringen mit der Aussenwelt; er muss in der Abgeschiedenheit einer Toilette Verhaltensregeln aufsagen, um den Alltag bewältigen zu können. Wie viele Auteuil-Figuren erwartet auch Alex in Les voleurs nicht, geliebt zu werden. Als Polizist ist er gleichsam das schwarze Schaf in einer Familie von Verbrechern, hat schon als Kind lernen müssen, dass die Einsamkeit seine beste Überlebenschance ist. Die Fürsorglichkeit, die er gegenüber einem kleinen Jungen entwickelt, spielt Auteuil ohne jede Sentimentalität.
Die Verführungskraft, die dieser Schauspieler besitzt, musste andere Wege gehen, als es das Kino gemeinhin vorsieht. Auteuil ist ein Paradoxon: ein Star, der nie aufgehört hat, ein «acteur de composition», ein Charakterdarsteller zu sein. Sein Spektrum ist breit. Er kann den unterschiedlichsten Figuren Wahrhaftigkeit verleihen. In allen findet er etwas, von dem er zulässt, dass es ihn heimsucht. Er bürgt für seine Charaktere, mögen sie auch noch so armselig, kaltherzig oder verschlossen wirken, durch die Sorgfalt, mit denen er ihnen Gestalt gibt. Sein Mienenspiel, seine Gestik sind von grosser, unpathetischer Ergriffenheit. Die unverwechselbare Art, wie er das Kinn anhebt, oder die Agilität seines Blicks demonstrieren, wie ernst er die Emotionen nimmt, die es auszudrücken gilt. Selbst der leicht offenstehende Mund, der bei amerikanischen Schauspielern stets ein wenig einfältig wirkt, besitzt bei ihm die Noblesse von Sorge oder Wachsamkeit.
Darstellung ist für ihn umsichtige Parteinahme: Er weiht den Zuschauer ein in die Zerrissenheit seiner Figuren, ohne ihn gleich mit dieser versöhnen zu wollen. Deren Geheimnisse wahrt er gleichwohl. Welche gemeinsame Vergangenheit verbindet ihn und seinen Kontrahenten Depardieu im Polizeifilm 36, quai des Orfèvres; woher rühren das Gefühl für Ehre und Loyalität, an dem der alternde Gangster Gu in Le deuxième souffle festhält; welche Kränkung veranlasst den Geigenbauer Stéphane in Un cœur en hiver, das Liebesglück seines besten Freundes zu zerstören?

Die Komödie weiss Rat
Einnehmend sind freilich alle grossen Charaktere Auteuils dennoch, denn er versäumt es nicht, ihre Verletzbarkeit freizulegen. Das macht ihn zu einer einzigartigen, romantischen Kinofigur. Er eröffnet sich ungekannte Freiräume in den Konventionen des Melodrams, unterhält ungeläufige Liebesbeziehungen. In La séparation etwa kehren sich die traditionellen Geschlechterrollen um: Hier definiert sich der Mann nicht durch den Beruf, sondern durch seine Gefühle; die Trennung von Anne vollzieht sich als eine Folge von Implosionen. In der aus Staatsraison geschlossenen Ehe in La Reine Margot entwickelt sich eine echte Komplizenschaft. In La fille sur le pont und Sade findet Auteuil in die Rolle des erotischen Mentors. In Je l’aimais baut er eine aufgeklärte, respektvolle Beziehung zu seiner Schwiegertochter auf.
Seine Komödienrollen führen gleichsam systematisch vor, wie offen die Kinofigur Auteuil für Wandlungen und Lernprozesse ist. Liebe oder Freundschaft bringen ihn in Filmen wie Romuald et Juliette, Le huitème jour und Mon meilleur ami dazu, Ignoranz und Überheblichkeit abzulegen. Sie führen vor, wie viel Wärme und Aufmerksamkeit ihm zu Gebot stehen, wenn Hindernisse beherzt aus dem Weg geschafft werden. Es braucht zwar eine Weile, bis er in Coline Serreaus Film auf die Idee kommt, Juliette die schweren Einkaufstüten abzunehmen. Aber in diesem Genre gelingt dem Schauspieler fulminant die optimistische Umkehrung der Sinnkrisen, die er in seinen «ernsten» Filmen durchlebt. Es sind einerseits Studien darüber, wie man sein Lächeln wiederfindet. Zugleich sind es Filme, in denen Auteuil sich vergnügt treu bleiben kann: Sein grosses Talent ist es, Figuren zu zeichnen, die lernen, sich in Frage zu stellen.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.