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Peter Liechti: Experimente in eigener Sache

Anfang Dezember wurde Peter Liechti mit dem Kunstpreis der Stadt Zürich ausgezeichnet und damit für sein einzigartiges Schaffen zwischen Dokumentar- und Essayfilm gewürdigt. Für das Filmpodium ist das eine willkommene Gelegenheit, das Werk des aussergewöhnlichen Filmpoeten in seinen verschiedenen Facetten zu präsentieren und auch frühere Filme einem breiteren Publikum bekannt zu machen. Von den namhaften Schweizer Filmschaffenden gehört Peter Liechti zu den am wenigsten bekannten. Dies, obwohl er seit Mitte der achtziger Jahre Filme macht. Zwar hat er bereits 2004 in Duisburg für Hans im Glück, diese Vorstösse ins eigene wie ins Landesinnere, den Preis für den besten deutschsprachigen Dokumentarfilm des Jahres erhalten. Und 2009 ist er, als erster Schweizer überhaupt, für The Sound of Insects mit dem Europäischen Dokumentarfilmpreis ausgezeichnet worden. Doch beide Filme, man muss es drastisch sagen, liefen hierzulande – trotz professioneller Verleiharbeit und sehr positivem Medienecho – praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Dabei führt kein anderer Schweizer Filmemacher wie Peter Liechti Introspektion und unaufdringliche Heimatkunde zusammen. So entschieden und klug hat bisher wohl noch kein Schweizer Film «ich» gesagt wie Hans im Glück, so poetisch und witzig haben sich Anschauung und Reflexion noch selten verbunden.
Als «Experimentalfilmer» hat Peter Liechti begonnen, stets in nächster Nähe zur zeitgenössischen Kunst, sei es diejenige Roman Signers, diejenige eines Nam June Paik oder diejenige der «freien», improvisierten Musik. Das hat dann zu ganz kurzen und zu mittellangen Filmen geführt wie Kick That Habit, zu Filmen, die stark auch von der Musik Norbert Möslangs und Andy Guhls lebten, ja über sie Improvisation zum Ausdruck eines Lebensgefühls werden liessen. Norbert Möslangs untergründig sondierende, nahe beim Geräusch angesiedelte Musik hat denn auch die Essays Hans im Glück und The Sound of Insects wesentlich mitgeformt.
Auch wenn Peter Liechti seit den neunziger Jahren keine Experimentalfilme im engeren Wortsinn mehr gemacht hat, bleibt das Experimentelle eine Grundvoraussetzung seines Filmens. Das zeigt sich auch dort, wo er «fremde» Experimente dokumentiert wie in den Musikfilmen Namibia Crossings (2004) und Hardcore Chambermusic (2006). Bei ersterem geht es um die Reisen eines Ensembles von Musikern verschiedenster Herkunft durch das ausgedehnte südwestafrikanische Land, beim zweiten um ein dreissigtägiges musikalisches Experiment in freier Improvisation, das das Trio Koch-Schütz-Studer im Sommer 2005 in Zürich unternahm. Während die afrikanischen Impressionen uns primär auf die Landschaften verweisen und nebst den musikalischen Prozessen den einen und andern gruppendynamischen andeuten, resultierte das Zürcher Experiment in einem Film, der Musik wesentlich als optisch rhythmisiertes Ereignis erfahrbar macht.

Raucherentwöhnung als poetischer Bussgang
Dass Filmen ein Experiment in eigener Sache ist, demonstrierte auf singuläre Weise Hans im Glück (2003). Diese Drei Versuche, das Rauchen loszuwerden sind ein Unikat im schweizerischen Filmschaffen, gewissermassen ein Meisterstück der ambulanten Selbstergründung. Um vom Rauchen wegzukommen, hat Liechti sich vorgenommen, die Strecke von Zürich nach St. Gallen, wo er 1951 geboren wurde und wo somit «alles angefangen hat», zu Fuss zurückzulegen. Zu unserm Vergnügen reicht der einmalige Bussgang nicht, so dass die Reise ein zweites und, bereits etwas desillusioniert, ein drittes Mal angetreten werden muss. Zu seiner Heimatstadt hat Peter Liechti eine spannungsreiche Beziehung bewahrt, auch wenn er seit vielen Jahren schon in Zürich lebt und arbeitet. So hat er sie in Marthas Garten (1997), seinem bisher einzigen Spielfilm, in faszinierend unvertrauten Bildern gezeigt: düster atmosphärische Ansichten einer in winterlichem Licht verdämmernden Szenerie, bevölkert von Elementen des Vampirfilms. Hans im Glück meint aber durchaus auch das Glück, das dem «vor sich hinschweizernden», wie er sagt, Filmemacher zuteil wird, Bilder des Ostschweizer Alltags von unerwarteter poetischer Aussagekraft zu finden. Und urkomisch wird es, wenn da, wo früher Rauchen war, nun plötzlich Denken ist, sich eine ganz neue, unvertraute Denkwut eingeschlichen hat: «Kaum hör ich auf mit dem Rauchen, fang ich schon an mit dem Denken», muss der Wandersmann ingrimmig konstatieren.
Die herkömmlichen dokumentarischen Gefilde vollends verlassen hat dann der Essayfilm The Sound of Insects. Das Ich des Filmemacher-Künstlers manifestiert sich nun in Bildern, die als mögliche Reste einer verschwimmenden Erinnerung eines Sterbenden erscheinen. Die nachgelassenen Blätter eines unbekannten Toten, der als mumifizierter Körper in einem abgelegenen Waldstück aufgefunden wurde, protokollieren ein freiwilliges Sterben durch Verhungern. Dazu sehen wir Zeichen der Annäherung an ein Totenreich – halluzinatorisch schön, fremd.

Nähe zur Natur und zur bildenden Kunst
Immerhin hat ein Film Peter Liechtis ein grösseres Publikum gefunden. Signers Koffer (1995), zugleich Essay- und Dokumentarfilm, hat die Arbeit des grossen Kunstfeuerwerkers weiteren Kreisen überhaupt erst bekanntgemacht. Hier gewinnen Roman Signers Aktionen, gewinnen insbesondere dessen Objekte einen ganz neuen, eben filmischen Grad an Innen- oder jedenfalls Eigenleben. Bei beiden, bei Signer und bei Liechti, steht die Auseinandersetzung mit der Natur im Mittelpunkt des Interesses, mit der Landschaft, deren Schönheit unter dem Aspekt ihrer Indienstnahme durch den Menschen zu betrachten wäre.
Merkmal des Liechtischen Filmens ist einerseits also die Nähe zu Verfahren der bildenden Kunst und der «freien» Musik, wobei der Film nicht «schöne» Bilder zu produzieren, sondern seine spezifische Materialität zum Ausdruck zu bringen hat, aufgeraut, widerständig; anderseits eine radikal persönliche Sichtweise auf die Dinge, Menschen, Landschaften. Es ist der neugierige Blick eines, der die Welt nicht von vornherein schon versteht. Die Erfahrung mit ihr, der Welt, ist erst noch zu machen, und wenn hier der Film sehr wohl das Resultat eines Denkvorgangs ist, so ist das Filmen nicht dessen Ergebnis, sondern der Denkprozess selbst.
Der Filmemacher ist nicht nur der Poet des Bildes beziehungsweise der Vernetzung und Konfrontation von Bildern. Ebenso sehr ist er ein Poet der Sprache. Umwerfend hat er dies im ersten seiner Essayfilme vorgeführt, dem gut halbstündigen Ausflug ins Gebirg von 1986. Minutenlang ertönt da der Rap der Berggipfel, der in einer zunehmend komisch funktionierenden Suada den Ingrimm des dorthin Verschlagenen mit der Lust am Aberwitz der Flurnamen kombiniert. Nachzulesen ist das alles und mehr im eben erschienenen, schön gestalteten Band «Lauftext – ab 1985» (Vexer-Verlag, St. Gallen 2010).
Gespannt sind wir auf das Jahr 2012. Da soll Peter Liechtis neuer Film vorliegen, Vaters Garten – Der Untergang des Abendlands. Er verspricht, wiederum ganz und gar einzigartig zu werden, eine dokumentarische Selbstergründung mit Formen der Darstellung, wie sie im Schweizer Film bisher noch nie zu sehen waren.
Christoph Egger

Christoph Egger hat als ehemaliger Filmredaktor der NZZ Peter Liechtis Schaffen immer aus der Nähe verfolgt und war Laudator, als Liechti am 6. November 2010 mit dem Grossen Kulturpreis der Stadt St. Gallen ausgezeichnet wurde.