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Zacharias Kunuk & The Inuit Style of Filmmaking

2001 stellt Zacharias Kunuk sein Spielfilmdebüt The Fast Runner am Filmfestival von Cannes vor und gewinnt mit dem bildgewaltigen Epos gleich die Caméra d’Or. Als erster Inuit, der eine solche Auszeichnung erhält, katapultiert Kunuk das Inuit-Filmschaffen ins internationale Rampenlicht. Mit seinem Filmkollektiv Isuma.tv hat Kunuk inzwischen ein beeindruckendes Œuvre geschaffen, das sich in Spiel- und Dokumentarfilmen mit brennenden Themen wie Identität, Kolonialismus und Klimawandel beschäftigt. Zusammen mit dem kanadischen Kurator Mark Turner macht sich das Filmpodium auf zum Polarkreis und präsentiert nicht nur Kunuks wichtigste Filme, sondern auch die Arbeiten einer jüngeren Generation von Filmschaffenden und lädt zu Gesprächen mit Zacharias Kunuk & Norman Cohn sowie Marie-Hélène Cousineau & Lucy Tulugarjuk vom Arnait-Frauenfilm-Kollektiv. Eine Begegnung in Eis und Schnee – the Inuit Style of Filmmaking! Wenn Sie jemals von einem Inuk-Filmschaffenden gehört haben, ist Ihnen wahrscheinlich auch der Name Zacharias Kunuk ein Begriff. Und wenn Sie von Zacharias Kunuk gehört haben, stehen die Chancen gut, dass Ihnen der Titel Atanarjuat – The Fast Runner (2001) etwas sagt. Dieses historische Epos wird zu Recht als Wendepunkt für das globale indigene Kino gefeiert und wurde 2015 in einer Umfrage des Toronto International Film Festival zum besten kanadischen Film aller Zeiten gewählt. In einem Text zum Film kurz nach seiner Veröffentlichung zitierte Margaret Atwood die Worte eines BBC-Kritikers: «Hätte man Homer eine Videokamera gegeben, hätte er diesen Film gemacht.» Die genaue Formulierung mag fragwürdig sein, aber für ein Publikum, das mit dem Kino oder der Kultur der Inuit nicht unbedingt vertraut ist, liefert sie eine nützliche Einführung zum Film und seinem Regisseur. Kunuk ist ein Inuk aus dem kanadischen Nunavut. Atanarjuat ist eine traditionelle Erzählung aus dieser Region. Kunuks grosse Leistung bestand darin, Atanarjuat authentisch zu verfilmen und für ein internationales Filmpublikum greifbar zu machen.
Falls Sie allerdings bisher weder von Zacharias Kunuk, seinem Film Atanarjuat oder den Inuit im Allgemeinen gehört haben, ist es vielleicht hilfreich, sich vor dem Eintauchen in diese Filmreihe etwas mehr Hintergrundwissen anzueignen. Zu den Inuit gehören die kulturell verwandten indigenen Völker von Kalaallit Nunaat (Grönland), Inuit Nunangat (eine Inuvialuit-Siedlungsregion im Norden Kanadas), Nordalaska und das russische Tschukotka. In allen vier Ländern werden verschiedene Inuit-Sprachen und -Dialekte gesprochen, die sich oftmals stark voneinander unterscheiden. Das Wort «Inuit» wird häufig mit «Volk» übersetzt. Genau genommen bezeichnet «Inuk» eine Person und «Inuuk» zwei Personen. «Inuit» umfasst demnach jede Gruppe von Menschen, die aus mehr als zwei Leuten besteht.

Inuit-Filmschaffen vor und hinter der Kamera
Tatsächlich sind die Inuit schon seit Langem im internationalen Filmschaffen involviert. In südlichen Breitengraden kennt man vermutlich am ehesten Werke wie Nanook of the North (1922) von Robert Flaherty oder die Arbeiten von Asen Balikci und Guy Mary-Rousselière. Auch Quentin Browns Netsilik Eskimo-Serie (1967) oder die zahlreichen Filme, die Jørgen Roos zwischen 1950 und 1997 über Kalaallit Nunaat gedreht hat, sind dafür ein Beweis. Doch beim genaueren Hinsehen verbirgt sich hinter den Werken, die von den Südländern (oder qallunaat, wie wir in einigen Inuit-Sprachen genannt werden) oft gefeiert werden, eine viel tiefere Geschichte. Inuit waren bereits 1901 erstmals vor der Kamera zu sehen. Der erste von einem Inuk geschriebene Spielfilm, der heute verschollene Way of the Eskimo, wurde 1911 veröffentlicht. Inuit-Sprachen kamen in einigen frühen Tonfilmen wie etwa W.S. Van Dykes Eskimo (1933) und Friedrich Dalsheims Palos Brudefærd/The Wedding of Palo (1934) vor. Unser kulturelles Verständnis, das fast ausschliesslich Schlüsselpositionen hinter der Kamera wie Regie oder Produktion unmittelbar mit einem Werk in Verbindung bringt, führt dazu, dass das Schaffen unzähliger Inuit in den letzten hundert Jahren nicht wahrgenommen wird. Dabei wäre Nanook ohne das Mitwirken seines Hauptdarstellers Allakariallak und der Gemeinschaft von Inukjuak in Nunavik nicht möglich gewesen. So wie auch die Filme von Van Dyke und Dalsheim nicht ohne die Mithilfe von Menschen wie Ray Agnaqsiaq Wise und Knud Rasmussen entstanden wären. Was Zacharias Kunuk daher unter vielem anderen auszeichnet, ist, dass er als erster Inuk offiziell für seine Arbeit als Regisseur und Produzent anerkannt wurde.

Von Eisläufern und der Banalität des Kolonialismus
1957 in Kapuivik geboren, begann Zacharias Kunuk seine künstlerische Laufbahn zunächst als Schnitzer. 1981 verkaufte er drei Skulpturen, um sich eine Videokamera zu finanzieren. Das Filmen und Schneiden brachte er sich anschliessend selbst bei. 1983 ging er dazu über, als Produzent für die Inuit Broadcasting Corporation in Igloolik, Nunavut, zu arbeiten. Dort begann er, unter dem Namen Isuma Filme zu produzieren – eine Kooperative, die 1990 dann offiziell von Kunuk, Paul Apak Angilirq, Norman Cohn und Pauloosie Qulitalik gegründet wurde. Viele von Isumas ersten Produktionen wie Qaggiq/Gathering Place (1989) und Nunaqpa Going Inland (1991) wirken wie Dokumentarfilme, stellen jedoch vielmehr akribisch das traditionelle Leben der Inuit in der jüngsten Vergangenheit dar. Die Tendenz, Isuma-Filme als Dokumentationen zu betrachten, führte schliesslich dazu, dass Kunuk selbst Atanarjuat als «starkes Drama, nicht als Dokumentarfilm» bezeichnete. Nachdem der Film 2001 in Cannes mit der Caméra d´Or ausgezeichnet worden war, erlangte Kunuk erstmals internationale Aufmerksamkeit. Seitdem werden seine Arbeiten regelmässig weltweit auf Filmfestivals gezeigt. 2019 vertrat Isuma (Zacharias Kunuk und Norman Cohn,) Kanada an der Biennale von Venedig. Kunuk ist ein «Officer of the Order of Canada» und Mitglied des «Order of Nunavut».
Von Kunuk sind insgesamt neun Filme, darunter drei Spielfilme, Teil dieses Programms. Die ausgewählten Werke stehen sinnbildlich für sein Anliegen als Filmemacher: sein Engagement für traditionelle Inuit-Geschichten und die Historie der Inuit, seinen tiefen Respekt und sein differenziertes Verständnis dafür, was es bedeutet, auf diesem Land zu «leben», und nicht zuletzt für seine Meisterschaft in der dokumentarischen Form. In so einem Programm darf natürlich Atanarjuat nicht fehlen, die epische Geschichte von Liebe, Mord und Rache, die zu Beginn des ersten Jahrtausends in Nunavut spielt, noch vor dem ersten Kontakt mit Europäern. Der Film wurde oft für seine langen Einstellungen, die weiten Landschaftsaufnahmen und seine Farbdramaturgie in Eis und Schnee gefeiert - die heute übrigens noch genauso beeindrucken wie vor zwanzig Jahren. Maliglutit/Searchers (2016), bei dem Kunuk und Natar Ungalaaq (der Schauspieler, der Atanarjuat spielte) gemeinsam Regie führten, ist eine Adaption von John Fords The Searchers aus dem Jahr 1956. Der Einfluss von Fords Film auf das westliche Kino ist hinlänglich bekannt. Kunuks und Ungalaaqs Verfilmung offenbart jedoch seine besondere Wirkung auf Kunuk: «John Wayne war unser Held», sagte er 2017 in einem Interview mit der Canadian Broadcasting Corporation. Als er im Alter von neun Jahren nach Igloolik zog, «gab es einen kleinen Gemeindesaal, in dem 16-mm-Filme vorgeführt wurden. Viele davon zeigten Cowboys und Indianer – und John Wayne.» Der dritte Spielfilm, One Day in the Life of Noah Piugattuk (2019), erzählt, wie der titelgebende Piugattuk 1961 von einem Regierungsbeamten aufgefordert wird, seinen traditionellen Lebensstil aufzugeben. Die langen Einstellungen und die Dialoge, die durch einen Übersetzer wiedergegeben werden, der für Piugattuk und den Regierungsagenten dolmetscht, lenken die Aufmerksamkeit auf die ganze Banalität der Kolonialisierung. Der Film war Teil des Programms, das das Isuma-Kollektiv an der Biennale von Venedig präsentierte.

Das Arnait Frauenkollektiv und Inuit-Stimmen rund um den Polarkreis
In Kanada arbeitet Isuma eng mit Arnait Video Productions zusammen, einem Frauenkollektiv, das die Kultur der Inuit-Frauen fördert und sich für ihre Filme einsetzt. Gegründet wurde Arnait 1991 in Igloolik, Nunavut, von Marie-Hélène Cousineau, Madeline Ivalu, Susan Avingaq, Carol Kunnuk und Atuat Akkitirq. Viele der Arnait-Mitglieder haben seither an Isuma-Filmen mitgewirkt, und Isuma hat mehrere Projekte von Arnait produziert. Die frühere Arbeit der Organisation zeigt ein ähnliches Engagement für die Geschichte der Inuit, das Geschichtenerzählen und den Dokumentarfilm wie das von Isuma, aber in den letzten Jahren hat sich das Interesse eher auf Spielfilme verlagert, die die Erfahrungen und das Wissen der weiblichen Inuit in einen kulturübergreifenden Kontext stellen. In einer grösser gefassten Inuit-Welt, die Kalaallit Nunaat, Alaska und Russland umfasst, sind Kunuk und Isuma etwas schwieriger zu verorten. «Wir haben von Atanarjuat mehr über unsere eigene Kultur erfahren, als wir jemals in der Schule gelernt haben», sagte der grönländische Filmemacher Inuk Silis Hoegh (SUMÉ - The Sound of a Revolution) 2017 in einem Interview. Aber er bedauert den «Mangel an Kontakt: Ich habe noch nie darüber nachgedacht, dass unsere Filmgemeinschaft hier eigentlich ein Teil einer grösseren Gemeinschaft in anderen Inuit-Ländern ist.» In Kalaallit Nunaat haben nationale Filmentwicklungsorganisationen wie FILM.GL eine neue Welle von Dramen, Dokumentar- und Horrorfilmen angestossen, die sich mit der aktuellen Erfahrung des Kolonialismus auseinandersetzen. In Form und Inhalt unterscheiden sich diese Filme von der Arbeit Kunuks und der von Isuma, dennoch entspringen sie einem ähnlichen Ethos und politischen Engagement. Auch diese Filme erzählen Inuit-Geschichten.
Mit unserem Programm möchten wir Ihnen die Bandbreite des ganzen zeitgenössischen Inuit-Kinos zeigen. Wir hoffen, dass es Ihnen gefällt. Quyana. Nakummek. Qujanaq. Dankeschön.
Mark David Turner


Mark David Turner ist Kulturhistoriker und Moderator. Er arbeitet an der Schnittstelle von Medien, darstellenden Künsten und Archivierungspraxis im Nordwestatlantik und im zirkumpolaren Norden.

Für das Zustandekommen dieses Programms danken wir ganz herzlich unserem Ko-Curator Mark David Turner sowie unseren Kooperationspartnern Isuma.tv, NONAM und dem Völkerkundemuseum.