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Stummfilmfestival 2023

Das diesjährige Stummfilmfestival bietet nicht weniger als 21 Kino-Konzerte mit insgesamt 24 Filmen. Zu den Highlights zählen die mehrteilige Victor-Hugo-Verfilmung Les Misérables (1912), das Slapstick-Programm für Familien, der Serial-Marathon von Louis Feuillades Judex und der Abschlussabend mit der Vertonung der Clara-Bow-Komödie It (1927) durch das Septett The Sprockets. «Es gibt keine alten Filme», sagte Gian Luca Farinelli bei seiner Ansprache zur Eröffnung des Marché International du Film Classique 2022 am Filmfestival Lumière in Lyon. Als Beleg führte der Direktor des Klassikerfestivals Il cinema ritrovato in Bologna und des Filmfestivals von Rom an, wie er in den 70er-Jahren nach dem gewaltsamen Tod eines demonstrierenden Studenten einer Vorführung von Carl Theodor Dreyers Stummfilm La passion de Jeanne d’Arc (1928) beiwohnte, der als metaphorisches Mahnmal wieder brandaktuell wirkte.
Tatsächlich haben uns selbst über 100 Jahre alte Filme immer wieder viel zu sagen – wenn auch nicht immer das Gleiche, wie das damals zeitgenössische Publikum herauslas. Und wie Farinelli in Lyon auch sagte: «Manchmal ist man für einen Film beim ersten Sehen noch nicht reif, und wenn man ihn als Teil des Filmerbes wiedersieht, begreift man ihn.»
Das Filmerbe wird nicht nur immer grösser, sondern auch immer jünger: Manchen Fachleuten zufolge gehört ein Film schon im Alter von sechs Jahren dazu. Das Filmerbe ist somit eine lebendige Angelegenheit, braucht aber entsprechende Sorgfalt und Pflege. An den Festivals von Bologna, Pordenone und Lyon werden gerade auch Stummfilme einem neuen Publikum vorgestellt, zumeist in restaurierter Form.
Vergleichsweise vorbildlich kümmert sich Frankreich um das Kino früherer Generationen, denn das staatliche Centre national du cinéma et de l’image animée CNC unterstützt Archive bei Restaurierungen, und diverse Stiftungen, Produktionshäuser und Verleiher investieren ebenfalls in die Aufarbeitung von Filmen, obwohl sich der Aufwand nicht immer refinanzieren lässt. Das erklärt zum Teil, weshalb in der diesjährigen Programmauswahl mehr Stummfilme aus Frankreich zu sehen sind als aus jedem anderen Filmland.

Interessante Querverbindungen
Über Landesgrenzen hinweg allerdings gibt es in unserem Programm diverse Querverbindungen. So erzählen gleich zwei Filme von Femmes fatales: In Jacques de Baroncellis Adaption von Pierre Louÿs’ Roman «La femme et le pantin» verdreht eine Carmen-ähnliche Proletarierin einem Adligen den Kopf. Henrik Galeen hingegen lässt in Alraune (1928) eine in der Retorte gezeugte Frau zur herzlosen Verführerin heranwachsen, perfekt besetzt mit Brigitte Helm. Ihr verblendeter Schöpfer, Professor ten Brinken, ist einer von drei wahnsinnigen Wissenschaftlern, die unser Festival heimsuchen; sein Kollege in Balaoo (1913) erzeugt ein Mischwesen zwischen Affe und Mensch, während in René Clairs Paris qui dort (1925) ein Erfinder mit einem seltsamen Strahl die Seine-Stadt einschläfert.
Literaturvorlagen hatten es im kurzatmigen frühen Stummfilm schwer, aber Albert Capellani verfilmte bereits 1912 Victor Hugos Romanepos «Les Misérables» in einer Gesamtlänge von knapp drei Stunden, vergleichsweise realistisch und erstaunlich kongenial. Die Verfilmung von Richard Voss’ Roman «Villa Falconieri» durch Richard Oswald hingegen orientiert sich eher am Schauspielstil der Diva Maria Jacobini. Mit Maurice Tourneur schuf ein eingewanderter Franzose die originalgetreuste Verfilmung von James Fenimore Coopers Roman «The Last of the Mohicans». Den Oberbösewicht Magua gibt derselbe Wallace Beery, der in Buster Keatons Gag-Festival Three Ages (1923) dem feinsinnigen Helden das Leben schwermacht.
1930 kam der stimmungsvolle, stumme Regieerstling des Schauspielers Charles Vanel, Dans la nuit, ins Kino und geriet unter die Räder des triumphierenden Tonfilms. Länger hielt sich der Stummfilm in Fernost, wo Shi Dongshan 1932 Fen dou drehte, eine Dreiecksgeschichte, in der sich zeitgenössische politische Konflikte niederschlagen. Und Yasujiro Ozu schuf 1934 einen seiner besten Stummfilme, A Story of Floating Weeds, über den Wanderschauspieler Kihachi, der sich mit seiner Truppe wie die titelgebenden Wasserlinsen durchs Leben treiben lässt. Zum Vergleich ist auch Ozus farbiges Tonfilm-Remake Floating Weeds von 1959 zu sehen.
Zwei weitere Vorstellungen verdienen besonderes Augen- und Ohrenmerk: Wir zeigen Louis Feuillades restauriertes Serial Judex (1916) über einen geheimnisvollen Rächer als Marathon, untermalt mit einem musikalischen Staffellauf am Flügel. Und erstmals tritt Maud Nelissen nicht nur solo auf, sondern auch mit ihrer Band The Sprockets, zur Komödie It (1927), die Clara Bow zum ersten sprichwörtlichen «It Girl» machte; sie hat – wie auch der Stummfilm mit Live-Musik – das «gewisse Etwas».
Michel Bodmer

Für die Unterstützung des Stummfilmfestivals danken wir Lumière, dem Förderverein des Filmpodiums.