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Joe May und der frühe deutsche Tonfilm

Aus Anlass des 100. Jahrestags der Gründung der Weimarer Republik hat das Hamburger cinefest, das «Internationale Festival des deutschen Film-Erbes», seine Festivalausgabe vom November 2018 dem Regisseur, Produzenten und Talentförderer Joe May (1880–1954) gewidmet, der auch als Atelierbetreiber und Erfinder zahlreicher Genre-Serien einer der wichtigsten Filmschaffenden des Weimarer Kinos war. Wir übernehmen eine Auswahl seiner Filme aus verschiedenen Schaffensperioden und ergänzen sie mit zeitgenössischen frühen deutschen Tonfilmen. Der gebürtige Wiener Julius Otto Mandl ist durch seine Frau, die Operettendiva Mia May (1884–1980), zum Film – und zu seinem Künstlernamen – gekommen. In den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg versuchte er als Regisseur, Autor und Produzent u. a. mit May’s Preisrätsel im Film, mit Mia-May-Melodramen und Detektiv-Serien ein bürgerliches Publikum zu erreichen. Zu den wenigen erhaltenen Filmen dieser Epoche gehören Der Mann im Keller (1914, Regie: Johannes Guter) und Das rollende Hotel (1918/19, Regie: Harry Piel) mit dem Gentleman-Detektiv Joe Deebs. Der Grossfilm Veritas vincit (Die Wahrheit siegt; 1918/19) entstand – mit Mia May in der Hauptrolle – im Rahmen der neu gegründeten Ufa. Die Filmtrilogie ist ein (vergessenes) deutsches Gegenstück zu D. W. Griffiths Intolerance (USA 1916), der erst Jahre später in Deutschland herauskam. Für seine May-Film GmbH führte er 1919 im eigenen Atelier Berlin-Weissensee und in der Filmstadt Woltersdorf die Oberleitung für die weltumspannende Abenteuerserie Die Herrin der Welt mit acht selbstständigen Teilen, etwa mit dem für Metropolis als Vorbild dienenden Afrika-Abenteuer Ophir, die Stadt der Vergangenheit und der Mediensatire Die Frau mit den Milliarden, beide unter der Regie von Uwe Jens Krafft.
Zu den jungen Mitarbeitern dieses Projekts zählte auch Fritz Lang, dem May 1920 die Regie zum Mia-May-Melodram Das wandernde Bild übertrug. Das Drehbuch schrieb Lang mit seiner späteren Ehefrau Thea von Harbou. Beide waren 1921 auch die Autoren des exotischen Zweiteilers Das indische Grabmal, dessen Inszenierung mit Grossbauten in Woltersdorf dann May selbst übernahm. Der Stoff wurde zweimal wiederverfilmt; 1958/59 von Fritz Lang selbst. Nach etwa 50 Filmen beendete Mia May – ausgelöst durch den Selbstmord ihrer Tochter Eva (1902–1924) – ihre Filmkarriere.
Im folgenden Jahr inszenierte Joe May mit internationaler Besetzung und mit Blick auf die ausländischen Märkte die amerikanisch-europäische Gesellschaftskomödie Der Farmer aus Texas nach dem Bühnenstück «Kolportage» des Erfolgsautors Georg Kaiser. Da ab Mitte der 1920er-Jahre die May-Film AG in wirtschaftliche Probleme geriet, arbeitete May nun mit und für wechselnde Firmen. So drehte er 1928/29 im Rahmen der Erich-Pommer-Produktion der Ufa zwei Stummfilm-Meisterwerke: den Grossstadtkrimi Asphalt sowie das Zeitdrama Heimkehr nach einer Novelle von Leonhard Frank.

Offen für Neues
Der stets an der technischen Entwicklung interessierte May engagierte sich auch theoretisch und praktisch für die Erweiterung des Mediums durch den Ton. Zunächst betreute er 1929/30 im Rahmen der Joe-May-Produktion der Ufa internationale Mehrsprachen-Versionen fremder Regisseure: Gustav Ucickys Dorf-Musical Der unsterbliche Lump, von dem nur eine französisch-englische Fassung erhalten ist, und Kurt Bernhardts Preussen-Drama Die letzte Kompagnie mit Conrad Veidt in der Haupt- und Heinrich Gretler in einer (sehr kleinen) Nebenrolle; von diesem Film zeigt das Filmpodium die zeitgenössische englische Synchronfassung, da die deutsche Originalfassung nur sehr fragmentarisch erhalten ist.
1930 übernahm May selbst wieder die Regie und realisierte mit turbulenten Verwicklungen für die wiedererstandene May-Film AG zwei der gelungensten frühen deutschen Tonfilmkomödien, für die Walter Jurmann Ohrwürmer komponierte: Ihre Majestät die Liebe und ... ist das die Hauptsache?!, ein verblüffend frivoles Ehedrama und eine eigentliche Wiederentdeckung. Der skurrile Sängerfilm Ein Lied für Dich der Cine-Allianz Tonfilm GmbH für die Ufa kam noch im April 1933 heraus und wurde für den jüdischen Regisseur der letzte Film, den er in Nazi-Deutschland herstellen konnte.
Zunächst war May mit anderen Film-Emigranten in England und Frankreich an verschiedenen Produktionen beteiligt. 1934 konnte er in Hollywood für die Fox Film Music in the Air drehen, produziert von Erich Pommer, das Drehbuch stammt u. a. von Billie Wilder. Doch während junge Nachwuchskräfte wie Wilder (als Billy Wilder) eine Karriere im Hollywood-System begannen, konnte sich der 55-jährige Ex-Mogul nur schwer anpassen. Seine nächste Regie-Chance, Confession (1937) für Warner Bros., war ein Remake von Willi Forsts Cine-Allianz Tonfilm Mazurka (1935), bei dem May einzelne Szenen dem Original nachgestaltete.
Ab 1938 arbeitete er für Universal, drehte mit The House of Fear (1939) ein Ton-Remake von The Last Warning (1928), dem letzten Film seines ehemaligen Mitarbeiters, des Szenografen und Regisseurs Paul Leni (1885–1929). Gemeinsam mit dem Autor Kurt Siodmak beteiligte er sich mit The Invisible Man Returns (1939/40) an einer erfolgreichen Universal-Horror-Serie. Die Heimatfront-Komödie Johnny Doesn’t Live Here Anymore (1943/44) wurde Joe Mays letzte Filmregie.

Vom Stumm- zum Tonfilm
Die letzten Jahre Joe Mays in der Weimarer Republik waren zugleich auch die ersten Jahre des Tonfilms. Im Vergleich zu anderen Ländern hatten die deutschen Filmunternehmen, angeführt von der Ufa, ihre Produktion in geradezu atemberaubender Geschwindigkeit umgestellt: Zwischen den ersten Versuchen, an amerikanische Tonfilm-Erfolge wie The Singing Fool (1928) anzuschliessen, und dem nahezu vollständigen Einstellen der Stummfilmproduktion lag kaum ein Jahr. In dieser kurzen Phase musste sich das Kino gewissermassen neu erfinden. Kritiker, Regisseure, Produzenten und Techniker debattierten dabei viel und gern, experimentierten und probierten Neues aus: Sollte im Tonfilm viel gesprochen werden? Oder lieber gar nicht? Wie kann sich der Tonfilm vom Theater unterscheiden? Und welche Rolle sollte die Musik dabei spielen? Unsere kleine Auswahl an frühen Tonfilmen der Weimarer Republik führt vor Augen, wie sich die Filmemacher der Übergangszeit solchen Fragen stellten und die bekannten Genres der Stummfilmzeit mit den neuen Möglichkeiten von Ton und Dialog anreicherten. Joe May stellte unter Beweis, dass sich mit Tempo und Wortwitz schmissige Tonfilmkomödien inszenieren lassen. Kriegsfilme wie der pazifistische Westfront 1918 (G. W. Pabst, D 1930) brachten die Schrecken des Krieges einschliesslich seiner verstörenden Geräuschwelten zu neuer, realistischer Darstellung. Auch der «Problemfilm», so etwa Mädchen in Uniform (Leontine Sagan, D 1930), profitierte von der Wirklichkeitsnähe, die der Tonfilm ausstrahlte. Zugleich entstanden gänzlich neue Genres, allen voran die diversen Formen des Musikfilms, von denen in Deutschland die Tonfilm-Operette die wohl erfolgreichste war: Filme wie Zwei Herzen im ¾ Takt (Géza von Bolváry, D 1930) boten eingängige Schlager, die geschickt in die Spielhandlung integriert waren. Vor dem Hintergrund des öffentlichen Interesses am Tonfilm verwundert es zudem nicht, dass auch dieser selbst in den Filmen thematisiert wurde – oft mit augenzwinkernder Ironie, wie der Kriminalfilm Der Schuss im Tonfilmatelier (Alfred Zeisler, D 1930) zeigt.

Daniel Wiegand

Das cinefest wird organisiert von CineGraph. Der Einleitungstext wurde von CineGraph übernommen. Hans-Michael Bock, Filmhistoriker und Direktor des cinefest, wird am 2. April um 18.15 Uhr in das Werk von Joe May und den anschliessend gezeigten Film Ihre Majestät die Liebe einführen.
Daniel Wiegand lehrt und forscht am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich zur Filmgeschichte, insbesondere zum frühen Kino und frühen Tonfilm. Er und Selina Hangartner (ebenfalls Seminar für Filmwissenschaft) werden in vier Filme einführen. Daten: Hier