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Lumière!

Alte Filmaufnahmen, zumal solche, die das private und öffentliche Leben vor weit über hundert Jahren zeigen, umgibt oft eine melancholische Aura vergangener Zeiten. Wenn sie wie nun in Lumière! in hervorragender Qualität wieder zu entdecken sind, verwandelt sich diese Aura in reine Magie.

Legenden sind anschaulich und erklärungsmächtig, doch zeigen, erzählen und erhellen sie bestenfalls die halbe Wahrheit. Vor allem aber verstellen sie den unmittelbaren Zugang zu Leben und Werk, so auch zum Cinématographe und dem filmischen Œuvre von Louis und Auguste Lumière. Schon zu Lebzeiten rankten sich nationalistische Anekdoten um die beiden Lyoner Foto-Industriellen als Alleinerfinder des Films, der Leitkunst der Moderne. Doch so sehr die medientechnische Innovation der Lumières überschätzt sein mochte – ihr Apparat war nur das eleganteste und vielseitigste unter zahlreichen konkurrierenden Systemen –, so unterbewertet blieb ihr filmisches Werk. Es ist dies ein Schatz von 1428 zertifizierten Filmen, zwischen 1895 und 1903 weltweit geäufnet von Dutzenden ihrer Operateure, geordnet nach sieben Themenbereichen in zwei Verkaufskatalogen und ursprünglich auch sorgfältig archiviert. Wenn deshalb dieses riesige filmische Gesamtwerk ungleich besser und vollständiger erhalten ist als alle anderen Produktionen der Filmpionierzeit, woher rührt dann aber dessen verbreitete Geringschätzung, die erst mit der pompösen 100-Jahr-Feier des Films von 1995 endete? Der legendäre Antagonismus zwischen «naturalistisch-dokumentarischem» Lumière-Œuvre und unterhaltsamem, erzählerischem Illusionismus des Zaubertheaterkünstlers Georges Méliès reicht als Erklärung nicht aus.
Zum einen sahen sich die Lumières nicht als «Content Providers». Sie versuchten lediglich, dem schnell erlahmenden Publikumsinteresse an der letztlich nur technischen Attraktion ihres Bewegtbildapparats entgegenzuwirken. Ihr – auch geschäftliches – Interesse galt vorab der Weiterentwicklung der fotografischen Technologien wie der Grossbild- und Panoramaprojektion sowie der Farb-, 3-D- und sogar holografischen Fotografie. Sie verkauften deshalb schon 1903 den Cinématographe mit schönem Gewinn ihrem einstigen Konkurrenten Charles Pathé, der einen besseren Riecher für langfristig publikumswirksame Stoffe hatte – und der mit der Einführung des Verleihsystems eine wichtige Grundlage dafür schuf, dass sich der Film am neuen Veranstaltungsort «Kino» institutionalisieren konnte.
Zum anderen, und damit eng verknüpft, verpassten die Lumières die Entwicklung einer Kamera von grösserem Fassungsvermögen als nur einer knappen Minute Filmmaterial. Ein typischer Lumière-Film entspricht deshalb einer durchschnittlich 50-sekündigen, ungeschnittenen Einzeleinstellung ohne Kamerabewegung. Kürze, Statik und die Unmöglichkeit von Montage erwiesen sich natürlich bald als gestalterisches Handicap, wenn es darum ging, immer längere und komplexere Geschichten zu erzählen. Gerade diese Fähigkeit war eine weitere Vorbedingung für das Entstehen von Kinos mit ihren Bedürfnissen nach längeren, Spielfilm-tauglichen Programmen für ein zu schaffendes Stammpublikum. Zwar begründete Louis Lumière mit L’arroseur arrosé bereits 1895 die Filmkomödie. Doch auch dieser narrative Wurf von ausgeklügelter Mikrodramaturgie und schönen fotografischen Effekten war in der gebotenen Kürze nicht ausbaufähig, allen Remakes und Plagiaten zum Trotz.

Nur «lebendige Postkarten»? – Keineswegs!
Dies rechtfertigt aber noch lange nicht das ungerechte, langjährige Verdikt, dass es sich beim Werk der Lumières bestenfalls um «lebendige» Postkarten handle. Solche professionellen Vorurteile konnten nur deswegen entstehen, weil die allermeisten Filme kaum greifbar waren – und wenn, dann in sehr schlechtem Zustand. Damit übersah man, dass eine ausgeklügelte Programmation der immer neu kombinierbaren Einzelfilme aus unterschiedlichen Teil-Genres sehr viel zu einer «Montage avant la lettre» beitragen konnte. Schlimmer noch: Die Unmöglichkeit eines vertieften Studiums der Filme in guter Visionierungsqualität führte zur Verkennung der sorgfältigen Binnendramaturgie in der fast immer wohlgetimten Inszenierung, ja zum schier unausrottbaren Irrtum, dass es den Lumière-Operateuren bloss um eiliges, kunstlos-spontanes Abfilmen gegangen sei.
Um es auf den Punkt zu bringen: Vor lauter buchstäblicher und ideologischer Patina im Lumière’schen Vermächtnis fehlte es am direkten Zugang: Die Möglichkeit einer offenen, authentischen Begegnung mit den Filmen selbst tat not.

In neuer Pracht
Dies alles änderte sich mit dem Projekt der Cinémathèque française und des Lyoner Institut Lumière, das Filmerbe der Lumières mit allen heute zu Gebote stehenden digitalen und analogen Bildbearbeitungstechnologien zu sichern und zu erschliessen. Der Präsident des Lumière-Instituts und Chef des Festivals von Cannes, Thiérry Frémaux, liess dabei alle Muskeln spielen, um aus diesem Material den prächtigen Film Lumière! zu machen, der dem cinephilen Publikum ein qualifiziertes Wiedersehen, vor allem aber ein neues Sehen ermöglicht. Und was geschieht mit uns dabei? Lumière! eröffnet ein eigentliches Universum, eine neue «Recherche du temps perdu», einen melancholischen Einblick in eine so ferne und doch so nahe Zeit, die mit der Zäsur des Ersten Weltkriegs abrupt ihr Ende fand.
Nie – und schon gar nicht beim Funzellicht und Bildstandwackeln ihrer zeitgenössischen Projektoren – konnte man diese Filme in so unverhoffter Pracht sehen. Die schlechthin fantastische 4K-Auflösung dieser Aufnahmen lädt zur Entdeckung von unglaublichsten Details ihrer Entstehung ein, vor allem aber zur Feier des unwiederbringlichen, doch leuchtenden Augenblicks: Das Fell einer Katze im Sonnenlicht, das im Wind wogende Laub, das Voltigieren von Soldaten, die Mühsal der Waschfrauen am Fluss, das Spiel der Kinder und der Wellen – sie alle sind Aufforderung zum genauen Hinblicken, aber immer auch Verführung zum impressionistischen Schwelgen: Das Vermächtnis der Lumières ist Auftakt zur Moderne und Abgesang auf die Belle Époque zugleich.

Bitte beachten Sie auch den Videovortrag über den Film Lumière 308 - Bâle: Pont sur le Rhin.

Thierry Frémaux (Frankreich 2016)

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Musik: Camille Saint-Saëns
Schnitt: Thomas Valette, Thierry Frémaux

Mit: Thierry Frémaux (Erzähler), Auguste Lumière (er selbst; Archivbildmaterial), Louis Lumière (er selbst; Archivbildmaterial), Martin Scorsese (er selbst)

90 Min., Farbe + sw, DCP, F/d

Spieldaten


Vergangene Vorstellungen:
Do.,
4.1.2018
20:45
Fr.,
5.1.2018
18:15
Sa.,
6.1.2018
15:00
Mo.,
8.1.2018
18:15
So.,
14.1.2018
15:00
Di.,
16.1.2018
20:00
Fr.,
19.1.2018
20:45
Mi.,
24.1.2018
15:00