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Béla Tarr × László Krasznahorkai: Literaturnobelpreis 2025

Eine Welt im Dämmerzustand, in der jeder Schritt Kraft kostet und rätselhafte Geschichten, in denen der Untergang bedrohlich nah erscheint: Die Filme von Béla Tarr gehören zu den aufsehenerregendsten Werken des Kinos der vergangenen 45 Jahre. Gefilmt in betörendem Schwarzweiss und choreografiert mit langen, aufwendigen Kamerafahrten, entwickeln die Filme einen geradezu hypnotischen Sog, der trotz aller Düsternis von einer tiefen Schönheit durchdrungen ist. Dabei verbinden seit 1988 alle Langfilme von Béla Tarr nicht nur ihre kompromisslose Haltung zur Welt und zum Kino, sondern sie teilen auch den gleichen Drehbuchautor: László Krasznahorkai, den diesjährigen Nobelpreisträger für Literatur. Die Sprache seiner Drehbücher findet aber überraschenderweise nicht in Dialogen ihren Widerhall, sondern übersetzt sich in Sinnlichkeit und Bewegung. Höchste Zeit also sich Verdammnis, Sátántangó, Die Werckmeisterschen Harmonien, The Man from London und The Turin Horse wieder im Kino anzuschauen! Wir zeigen jede Woche einen dieser Filme und feiern damit nicht nur das literarische Werk von Krasznahorkai, sondern auch die aussergewöhnliche Zusammenarbeit dieser beiden Künstler. Der diesjährige Nobelpreis für Literatur, verliehen an László Krasznahorkai – für dessen «dringliches und visionäres Werk, das inmitten apokalyptischer Schrecken die Macht der Kunst bekräftigt» – ist derjenige, der einem Nobelpreis für ein filmisches Werk am nächsten kommt. Obschon die Kollaboration zwischen dem ungarischen Schriftsteller und dessen Landsmann, Freund und Co-Pessimist Béla Tarr, bloss fünf Filme umfasst, existieren nur wenige (lebende) filmisch-literarische Zweigespanne, bei denen sich ein solcher mediumstranszendierender Preis angeboten hätte. Und wenn man bedenkt, dass das besagte Komitee seine Entscheidungen gerne in Konvergenz zum aktuellen Zeitgeist zu treffen versucht, war die Auszeichnung des formell experimentellen Ungarn, der selbst im schwärzesten metaphysischen Unbehagen, irgendwo am Ende eines ewig langen, verzweifelten Satzes ein wenig Raum für Schönheit und Humor offen hält, ziemlich naheliegend – wenn nicht gar schon überfällig.

Das letzte Licht

Die Zusammenarbeit zwischen Krasznahorkai und Tarr begann im vorletzten Jahr der Volksrepublik Ungarn mit Verdammnis (Kárhozat, 1988) und endete im zweiten Jahr von Viktor Orbáns Autokratie mit The Turin Horse (A Torinói ló, 2011). Sie endete nicht etwa, weil man sich künstlerisch auseinandergelebt oder gar zerstritten hätte, sondern weil Tarr sich dazu entschieden hat, keine weiteren Filme mehr zu machen und stattdessen anderen das Handwerk beizubringen. Der Kreis, sagt er, habe sich geschlossen, und jeder weitere Film wäre eine blosse Repetition der Form. Oder, wie es Jacques Rancière in «Bela Tarr. Die Zeit danach» fast schon optimistisch formuliert hat: «Wir sollten dies nicht im Sinne eines Films der Endzeit verstehen, als Beschreibung einer Gegenwart, über die hinaus keine Zukunft mehr zu erhoffen ist. Sondern eher als den Film, dessen Grad an Reduktion man nicht mehr unterschreiten kann.» Tatsächlich kann (oder will) man sich einen kargeren und freudloseren Film als The Turin Horse kaum vorstellen – aber auch kaum einen, bei dem sich formale Strenge und scheinbar absolute Endgültigkeit in solch erhabener Schönheit niederschlagen. Von der Anekdote über Nietzsches psychischen Zusammenbruch angesichts eines brutal behandelnden Pferdes ausgehend, erzählt der Film von sechs Tagen im Leben eines Kutschers und seiner Tochter auf einem ärmlichen Gehöft auf dem Land, wobei am Ende dieser sechs Tage in einer Art umgekehrten Genesis alles, sogar das Licht (und damit naturgemäss auch das Kino), verschwunden sein wird.

Nicht, dass am Anfang der Zusammenarbeit Zuversicht geherrscht hätte. Verdammnis, der irgendwo im wettergegerbten Niemandsland der späten Volksrepublik spielt, stellt auf anschauliche Weise die Frage, was von einem Film noir übrigbliebe, wenn von diesem jegliche Elemente entfernt würden, die der «Unterhaltung» dienen: eine verständliche Geschichte, Figuren mit einigermassen nachvollziehbaren Motivationen, ein Schimmer Hoffnung. Die mutmasslich offizielle Zusammenfassung der Handlung um einen depressiven Alkoholiker namens Karrer, der versucht, seinen romantischen Widersacher loszuwerden, indem er diesen auf eine riskante Schmuggelmission ansetzt, lässt sich an Lakonik nur schwer überbieten: «Die Dinge verlaufen nicht Plan. Es kommt zu Verrat. Karrer verzweifelt.» Betreffend Krasznahorkais Beitrag zu Tarrs Kino lässt sich hier jedenfalls bereits feststellen, dass dieser nicht von literarischer (bzw. sprachlicher) Natur ist, etwa indem er sich in den Dialogen bemerkbar machen würde. Im Gegenteil: Es finden, zumindest im Vergleich zu Tarrs vorherigem Werk, sowohl eine Abwendung vom Sprachlichen hin zum Sinnlichen, als auch eine Bevorzugung des Momentanen gegenüber dem Erzählerischen statt. Die Figuren drücken sich (und ihren Bezug zur «Welt») nicht mehr mit Worten aus, sondern durch ihre Körperhaltung, durch ihr Verhältnis zum Raum und damit, wie sich das Licht seinen Weg über ihre zerfurchten Gesichter bahnt. All das wird eingefangen von einer sich stets in Bewegung befindlichen Kamera, die Figuren umkreist, Räume abtastet sowie die Zeitlichkeit des Films definiert, indem sie aus dem Nichts heraus Dauer erschafft.

Aporops Dauer: Über Tarrs darauffolgenden Film schrieb Susan Sontag, dass sie froh wäre, diesen «während jeder Minute seiner sieben Stunden erschütternden und mitreissenden Film» jedes Jahr für den Rest ihres Lebens sehen zu können. Kein einfaches Unterfangen, wenn man diese Spielzeit bedenkt sowie den Umstand, dass Sátántangó (1994) ausserhalb eines Kinos kaum Sinn ergibt – was die seltenen Vorführungen im Grunde zu unverpassbaren Ereignissen macht. Sátántangó ist eine treue Adaption von Krasznahorkais erstem Roman, insofern als er dessen achronologischen Erzählstruktur folgt, die das betrübliche Geschehen in einem halbverlassenen Dorf in der ungarischen Tiefebene aus mehreren, sich überschneidenden Perspektiven wiedergibt. Gus Van Sant, ein weiterer prominenter Bewunderer Tarrs, eignete sich die Technik für seinen Film Elephant (2003) an. Die langen Sätze der literarischen Vorlage, bestehend aus oft frei schwirrenden inneren Monologen, werden in Tarrs Adaption zu langen und meist auch stummen Einstellungen, in denen oft nicht mehr «passiert», als dass sich eine Figur – zum Beispiel der Dorfarzt auf der Suche nach neuem Schnaps – von A nach B bewegt. Roman wie Film «handeln» zwar vom Niedergang einer verblendeten Gemeinschaft (mit der jene der späten ungarischen Volksrepublik gemeint sein könnte, aber auch jede andere), doch bei beiden hat gleichsam auch eine Umkehr im Verhältnis zwischen Form und Inhalt stattgefunden. Die Dorferzählung um einen falschen Erlöser wird bei Krasznahorkai zum Gefäss für einen sprachlichen Tanz in den Untergang, bei Tarr zu einem bedrückend-beflügelnden Rausch in Extremzeitlupe, zur filmischen Apokalypse im Schritttempo.

Der Wal, ein dunkler Spiegel

Immer wieder hat Tarr mit Vehemenz bestritten, dass seine Filme in irgendeiner Form Metaphern oder Symbole enthielten. Die Dinge, so scheint er mit seinen unendlichen Kamerafahrten, die seine Figuren verfolgen oder umkreisen, mitunter zu zeigen versuchen, seien genau das, was sie sind: real. Das würde dann auch und insbesondere für den ausgestopften Wal (!) im Zentrum von Die Werckmeisterschen Harmonien (Werckmeister harmóniák, 2000) gelten. Im Gegensatz zu Sátántangó beschränken sich Tarr und Krasznahorkai bei der Adaption der erneut multiperspektivischen literarischen Vorlage (deren Titel in der deutschen Übersetzung «Melancholie des Widerstands» lautet), auf eine einzige Perspektive. Zudem gipfelt die filmische Erzählung in einem Ereignis, das im Roman nur am Rande gestreift wird: ein von einem mysteriösen (und unsichtbaren) «Prinzen» angestachelter Volksaufstand und dessen schliessliche Niederschlagung. Majestätisch, bedrückend und trotz seiner Rätselhaftigkeit von einem glasklaren Blick auf die menschliche Gemeinschaft geprägt, die sehenden Auges ihrer eigenen Auflösung entgegenrennt, stellt der Film auf eine Art das Gegenteil des Wortes «zeitlos» dar. Als Trost bleibt am Ende immerhin jener Effekt von manch grosser Kunst: das Gefühl, in der Verzweiflung nicht alleine zu sein. Und die Schönheit der Bilder. Die aber, um abschliessend noch einmal Rancière zu zitieren, bei Tarr nie Selbstzweck sei: «Sie ist lediglich die Belohnung der Treue zu der Realität, die man ausdrücken möchte, sowie zu den Mitteln, die einem hierfür zur Verfügung stehen.» Da ist dann auch der Unterschied zwischen Kino und Literatur verschwunden.
Dominic Schmid

Dominic Schmid hat Filmwissenschaften und Japanologie in Zürich und Berlin studiert und arbeitet als freier Filmkritiker, Videothekar und Moderator zwischen Biel und Zürich.