Stummfilmfestival 2026: Tanz der Bilder
Das Stummfilmfestival 2026 bittet zum Tanz! Unter dem Titel «Tanz der Bilder» präsentiert der Themen-Fokus Stummfilme, die das Tanzen feiern, mit filmischen Mitteln umformen oder die Filmbilder gleich selbst zum Tanzen bringen: von tanzverrückten Charleston-Fans über Ausdruckstänzerinnen, dramatischen Bewegungschoreografien, unheimliche Geistertänze bis zur berühmten Ballerina als Filmstar. Wir präsentieren zudem in einem bunten Kaleidoskop herausragende Restaurierungen, Klassiker, die wir schon immer zeigen wollten, aber auch weniger bekannte Trouvaillen und laden zum Serienmarathon mit Feuillades unheimlichstem Werk Tih-Minh. 56 international renommierte Musiker:innen begleiten die Filme von Klassik über Jazz, Rock, Pop bis hin zu Elektronik und Avantgarde. Nach dem grossen Erfolg vom letzten Jahr sorgen wieder über 40 Kinder und Jugendliche von Musikschule Konservatorium Zürich (MKZ) für die musikalische Untermalung des Familienprogramms. Das Motto: Je verrückter, desto besser! Zu Gast sind wir zudem im Moods und im Kunstraum Walcheturm. Das Festival bestreitet das Filmpodium erneut in Kooperation mit dem IOIC (Institute of Incoherent Cinematography).
Als ein Journalist 1895 aus einer Filmvorführung des Lumière’schen Kinematografen tritt, schreibt er: «Die Leinwand tanzte, flimmerte.» Ähnlich erinnert sich der Theaterbetreiber und spätere Filmemacher Georges Méliès: «Ich kam nach Hause, mein Kopf stand in Flammen, überwältigt von den Bildern, die noch vor meinen Augen tanzten.» Zwar begleitet die Rede vom «Tanz der Bilder» schon optische Spielzeuge und präkinematografische Apparaturen ab Mitte des 19. Jahrhunderts, doch sie entfaltet erst im Kino ihre besondere Wirkmacht. Über den Tanz konnten Bewegung, Tempo und Rhythmus als zentrale Charakteristika des Films in Szene gesetzt werden. Davon zeugen zunächst die unzähligen Tanzszenen des frühen Kinos (von den Serpentinen- und Schleiertänzen über akrobatische Tanznummern bis hin zu tanzenden Hunden und Schweinen), später auch Tanzeinlagen, die frühen Filmstars wie Asta Nielsen oder Pola Negri Gelegenheit boten, sich als Tänzerinnen in Szene zu setzen. Die Begeisterung für Tempo, Bewegung und Rhythmus erfasst ab den frühen 1920er-Jahren auch die Kamera: Sie wird nicht nur ‹entfesselt› und verlässt ihren fixen Standort, sondern sie beginnt sogar regelrecht ‹mitzutanzen›. Bei Tanzszenen, so lautete eine häufig geäusserte Empfehlung an Filmregisseure, müsse die Kamera – auf Rollen montiert oder mit einem Fahrrad bewegt – ständig in Bewegung sein und die gleitenden Bewegungen der Tänzer mitvollziehen. «Ich weiss nicht, woran das liegt, aber man tanzt mit», kommentierten Zuschauer:innen diesen Effekt. Besonders populär wurden diese tänzerischen Effekte auch in der künstlerischen Avantgarde: So verstand etwa die französische Filmemacherin Germaine Dulac den Film als grundlegendes tänzerisches Medium, das durch kinästhetische Qualitäten ‹bewegen› sollte; entsprechend montierte sie in Thèmes et variations (1928) Bewegungen von Tänzerin und Maschine zu einer rhythmisch-abstrakten Choreografie. Auch die abstrakten Experimentalfilme, die der Künstler Walter Ruttmann in den 1920er- Jahren mit seinen Opus-Filmen präsentierte, wurden von Zeitgenossen, darunter renommierte Tanztheoretiker, als «Bewegungstanz der Ornamente», «tanzende Linien» oder «absoluter Tanz» beschrieben.
Frühe Filmkultur und moderner Tanz
Das Anliegen, Bewegung in ihren energetischen, ästhetischen und expressiven Qualitäten zu erforschen, verbindet die frühe Filmkultur insbesondere mit den zeitgleich aufkommenden ‹modernen› Tänzen. Um 1900 experimentierten Tänzerinnen wie Loïe Fuller und Isadora Duncan, später auch Rudolf von Laban, Mary Wigman und Gret Palucca auf Varieté- und Theaterbühnen mit neuartigen Tanz- und Körperkonzepten, die nicht mehr wie das klassische Ballett über ein zeichenhaft kodiertes Repertoire an Gesten und Posen strukturiert waren, sondern Bewegung in ihren dynamischen Grundprinzipien wie Schwung und Schwerkraft, in ihrem Ausdruckspotenzial und Verhältnis zum Raum erprobten. Diese tänzerische Erforschung neuartiger Bewegungs- und Körperkonzepte findet in den Filmen der Zeit Widerhall – mitunter auch indirekt. So sind zwar keine Filmaufnahmen von Fullers Serpentinentänzen überliefert; doch auch die zahlreichen Filme ihrer Imitatorinnen wie Danse serpentine (1897), Le farfalle (1906) oder Création de la serpentine (1907) laden dazu ein, den Blick auf die wogenden Bewegungen der Stoffbahnen und Körper zu richten und diese in ihren kontemplativ-hypnotisierenden Effekten wirken zu lassen. Auf ähnliche Weise erinnern die rhythmisch organisierten Massenchoreografien aus Fritz Langs Metropolis (1927) an die Bewegungschöre, die Laban und Wigman zuvor auf dem Monte Verità und in ihren Zürcher Tanzschulen entwickelt hatten.
Tänzer:innen reagieren auf den Film
Auch Tanzschaffende setzten sich bereits früh mit dem Film auseinander: Einige berühmte Tänzerinnen fürchteten zwar den Film als Konkurrenz oder Verfremdung ihrer Tanzkunst. So soll sich etwa Isadora Duncan kategorisch geweigert haben, ihre Tänze filmen zu lassen. Dennoch produzierte das Kino ‹eigene› Bilder der berühmten Tänzerin: Der für Duncan typische Tanzstil, barfuss und mit wehenden Schleiern und Blumen im Haar, vermeintlich ‹frei› tanzend, war in zahlreichen Filmen zu sehen – etwa in der US-Komödie Phil for Short (1919), in der die sympathische Hauptfigur Damophilia Duncans Tanzstil als Teil eines antikisierenden Bildungskanons aufführt. Diesen Bildungsdrang lebt die junge Frau nicht allein im Tanz aus; ihr wagemutiges Crossdressing als männlicher Student der Gräzistik führt zu wilden Verwechslungen und queer-romantischen Momenten, die erst wieder durch die konventionelle Romanze eingeholt werden.
Andere Tanzschaffende hingegen begrüssten den Film als effektives Mittel für die mediale Verbreitung ihrer Tänze. So übernahm die weltberühmte russische Primaballerina Anna Pawlowa die Hauptrolle in dem US-amerikanischen Historienfilm The Dumb Girl of Portici (1916) der Regisseurin Lois Weber. Der Film kam kurze Zeit nach Pawlowas US-Tournee in die amerikanischen Kinos und konnte von der Bekanntheit der Ballerina profitieren und diese umgekehrt verstärken. The Dumb Girl of Portici zeigte Pawlowa in Tanzszenen und als Filmschauspielerin; das Experiment bestand darin, dass sie die Rolle der stummen Fischerin Fenella über das Gestenvokabular des klassischen Balletts verkörperte.
Schliesslich gab es auch Tänzerinnen, die den Film als eigenständige Bewegungskunst verstanden und mit dessen spezifischen Mitteln zur Bewegungsgestaltung experimentierten. Der Kulturfilm Das Blumenwunder (1926), ursprünglich vom Chemie Konzern BASF zur Bewerbung seines chemischen Blumendüngers in Auftrag gegeben, setzt Zeitrafferaufnahmen von Pflanzen ein; deren schwebende Bewegungsqualitäten werden in Verbindung gesetzt zu den floral inspirierten Tänzen des Balletts der Preussischen Staatsoper Berlin. Auf eine deutlich experimentellere Orchestrierung filmischer und tänzerischer Bewegungen setzt auch die US-amerikanische Experimentalfilmemacherin und Tänzerin Maya Deren. In A Study in Choreography for Camera (1945) und Ritual in Transfigured Time (1946) stimmt sie die Bewegungen von Tänzer:innen, Kamera, Montage und Aufnahmegeschwindigkeit so aufeinander ab, dass traumähnliche Choreografien entstehen.
Tänzerische Körper- und Bewegungspolitiken
Stummfilme reagierten nicht nur auf die Tanzstile ihrer Zeit, sondern auch auf die damit jeweils verbundenen sozialen Anliegen, kulturellen Fantasien und erzählerischen Topoi: So blicken viele Slapstick-Komödien mit einer Mischung aus Faszination und Ironie auf die «dance crazes» der 1910er- und frühen 20er-Jahre. Wenn die grosse Begeisterung für Modetänze wie Tango, Foxtrott und Charleston in diesen Komödien stets als ‹ansteckend› persifliert wird, lässt sich dies auch als Effekt der sich damals global vernetzenden Musikund Vergnügungsindustrie verstehen.
Für die Zeit um den Ersten Weltkrieg wurden Geister- und Totentänze zu einem wichtigen Motiv: In Rapsodia Satanica (1917) erscheint Lyda Borelli wie eine Untote. Eingehüllt in fliessende Schals und Tüllschleierwirken ihre langsamen Bewegungen geradezu geisterhaft-schwebend. Noch einmal etwas anders variiert der US-amerikanische Regisseur und ehemalige Militärpilot Dudley Murphy das Thema der Totentänze, wenn er in Soul of the Cypress (1920) den Orpheus-Mythos und in Danse macabre (1922) visuelle Kulturen mittelalterlicher Totentänze bearbeitet.
Im Tanz spiegeln sich auch historische Geschlechterrollen, insbesondere in Verbindung mit der Frage nach sozialen Milieus. So setzt Gerhard Lamprechts Sozialdrama Unter der Laterne (1928) das Tanzlokal als symptomatischen Ort ein, über den er Milieu- und Klassenfragen im Schicksal der jungen Else herausarbeitet. Demgegenüber treten Patsy und die anderen Revuetänzerinnen aus Alfred Hitchcocks The Pleasure Garden (1925) als frecher Flapper in Erscheinung.
Der Tanz-Fokus des Stummfilmfestivals ist als Einladung gedacht – zum Mitwippen und Mittanzen, wo es gefällt, aber auch als Aufforderung, die Filme ausserhalb des Schwerpunkts auf ihre tänzerischen Strukturen hin zu befragen, den eigenen Blick für die Bewegung zu sensibilisieren: für die Muster und Intensitäten, mit denen der Tanz Bilder, Texturen und Körper – auch den des Publikums – erfasst und in Schwingung versetzt. Wer einmal angefangen hat, die filmische Tanz- und Bewegungslust wahrzunehmen, wird kaum mehr darüber hinwegschauen können, wie grundlegend die frühe Filmgeschichte davon inspiriert ist.
Kristina Köhler
Kristina Köhler, Juniorprofessorin an der Universität zu Köln, ist Autorin des Buches «Der tänzerische Film. Frühe Filmkultur und moderner Tanz» (Schüren, 2017).