Michel Piccoli: Spielerische Souveränität
Michel Piccoli (1925–2020) war eine Ausnahmeerscheinung des französischen Kinos.
Mit seiner unverwechselbaren Präsenz, seinem markanten Gesicht und den durchdringenden Augen verkörperte er im Lauf seiner mehr als 70 Jahre und 200 Filme überspannenden Karriere komplexe und widersprüchliche Figuren. Am 27. Dezember wäre Piccoli 100 Jahre alt geworden. Wie aber wird man so einem umfassenden Werk in 15 Filmen gerecht? Wir beweisen Mut zur Lücke und rücken neben einigen seiner wichtigsten Arbeiten wie Le journal d'une femme de chambre, Les choses de la vie oder La belle noiseuse mit Marco Bellocchios Salto nel vuoto oder La faille von Peter Fleischmann auch unbekanntere Filme ins Scheinwerferlicht. Piccoli begeistert in all diesen Filmen nicht nur als feinfühliger und charismatischer Schauspieler, sondern prägte sie auch nachhaltig mit seiner ungebremsten Freude an der Verwandlung und daran, Erwartungen zu unterlaufen. In seinen 2024 auf Deutsch veröffentlichten Erinnerungen «Ich habe in meinen Träumen gelebt» bietet er einen eigenen, berührenden Blick auf seine Karriere. Am 3. Dezember wird der Filmpublizist und Übersetzer Ralph Eue dieses Buch vorstellen.
Michel Piccoli hatte etwas, was ihn untrüglich als Star auszeichnete: dass man ihn für attraktiver hielt, als er eigentlich war. Im französischen Kino war er für unüberschaubar lange Jahre die erste Wahl, wenn es in einem Film darum gehen sollte, die Figur des selbstbewussten, dekadenten, insofern auch abgefeimten Verführers oder Lebemanns glaubhaft zu verkörpern. Und nie wäre es jemandem in den Sinn gekommen, dagegen einzuwenden, er sei doch weiss Gott kein Beau mit seinem Wuchtschädel, diesem im Lauf der Jahre immer weiter nach hinten fliehenden Haaransatz, den drahtigen Augenbrauen, den schmalen Lippen etc. etc.
Mag alles sein! Dem Eindruck, das Metier des Bourgeois (inklusive der standesgemässen Leidenschaften und Lebenslügen) wie kein anderer schon mit der Muttermilch in sich aufgenommen zu haben, tat das keinen Abbruch. Was ihn darüber hinaus aber auszeichnete, war, nicht nur souverän mit der distinguierten Fassade zu flunkern, sondern an den Sollbruchstellen des diskreten Charmes der besseren Gesellschaft anzusetzen. Also einerseits uns, dem Publikum, vertraut zu erscheinen und doch in eine Aura des Fremden und Unergründlichen gehüllt zu sein. Das Ganze aber, bitte schön, in höchstmöglichem Mass uneitel! In seinem Erinnerungsbuch «Ich habe in meinen Träumen gelebt» schreibt er mehrfach, wie sehr er sich davor in Acht nahm, seine Auftritte mit plakativer Brillanz aufzupeppen: «Zu erreichen, die Menschen mit meiner Arbeit zu verblüffen, und zwar unprätentiös, also einfach, ist wahrscheinlich mein Ideal. In meinen Augen sind eigentlich alle Menschen, die eine zu hohe Vorstellung von sich selbst und ihrem Beruf haben, unrühmlich und unerträglich, aber Künstler gehören in dieser Hinsicht zu den Schlimmsten. Die Eitelkeit, die sie manchmal an den Tag legen können, ist grotesk. Das Gegenteil davon: Mastroianni. So sein, wie er war. (…) Ich habe ihn oft sagen hören: ‹Schauspieler sein? Warum sich aufplustern, man macht eben und dann voilà ...›.»
Der Theaterregisseur Luc Bondy erzählte einmal, wie Michel Piccoli bei den Proben für Schnitzlers Das weite Land einen Gehrock ausziehen sollte: «Ich hatte ihm bei der Probe gesagt: Dieser Streit ist wie ein Duell, wie ein Kampf, wie ein Boxkampf. Darauf hat er reagiert, wie nur ganz wenige Schauspieler reagieren würden: Er hat versucht, seine Jacke so schnell auszuziehen wie nur möglich. Mit einer Hand wohlgemerkt – und ich habe ihn immer befeuert und gesagt: Noch schneller. So einen Gehrock aufzuknöpfen und hinzuknallen, das ist natürlich eine Sache, wo ein Schauspieler, der so gut ist wie Piccoli, seinen Ehrgeiz dransetzt zu sagen: So, ich habe drei oder vier Knöpfe aufzumachen und muss dann die Jacke auf die Bank knallen. 105 andere Schauspieler würden bei jedem Knopf einen neuen Ausdruck ihrer Seelenlage spielen, also dabei eine ganze Geschichte erzählen. Bei Piccoli war das Grossartige, dass er das Ding einfach ratsch aufgemacht hat, so, als handle es sich um Druckknöpfe – in einer fast matadorhaften Bewegung. Das ist wirklich ein Charakteristikum von ihm. Für mich zeichnet sich ein grosser Schauspieler dadurch aus, wie er mit seinen Requisiten umgeht, mit einem Glas, mit einer Zigarre, einer Streichholzschachtel …»
Vielleicht wird Michel Piccoli tatsächlich geliebt für die spielerische Souveränität, mit seinen Kostümierungen, Masken oder Requisiten umzugehen: Gut zu beobachten ist das in Claude Sautets grandiosem Ensemblestück Vincent, François, Paul et les autres (1974), wo er sich (als François) beim Schneiden des Lammbratens während eines Dinners in eine flammende Tirade steigert, um so seinem heiligen Zorn über die Selbstgefälligkeit der Buddies – wie auch seiner eigenen – freien Lauf lässt, bis am Ende das unschuldige Stück Fleisch dran glauben muss – aber wer oder was ist in solchen Momenten schon unschuldig!
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Der am 27. Dezember 1925 geborene Michel Piccoli entstammt einer Musikerfamilie mit italienischen Vorfahren. Seit den 1940er-Jahren spielt er Theater in Paris, mit 20 steht er erstmals vor einer Kamera. Seine ernsthafte Verwicklung mit dem Kino beginnt jedoch erst in der zweiten Hälfte der 1950er-Jahre. Schuld daran ist die Arbeit mit Luis Buñuel an La mort en ce jardin. Die These des Regisseurs, dass der Zufall der grosse Meister aller Dinge sei, das Prinzip der Notwendigkeit dagegen jegliche kreatürliche Evidenz vermissen lasse, deshalb auch als nachrangig betrachtet werden müsse, prägt ihn. Auch Buñuels «Schutzschild», mit dem er unliebsame Fragesteller vor den Kopf stösst: «Ich bin nicht der, den Sie glauben vor sich zu haben. Ausserdem weiss ich selbst nicht, wer, wie oder was ich bin.» Er solle seine Rollen einfach nach vorn spielen. Ins Offene oder Unerwartbare. Gegen die Interpretation. Deuten sollen andere! Mit dieser kleinen spirituellen Anleitung ausgestattet, begibt Piccoli sich auf den Weg in seine Filmkarriere, landet mit Nebenrollen bei Renoir, dann bei Melville und irgendwann bei Godard, der ihn neben Brigitte Bardot, Jack Palance und Fritz Lang als Mann mit dem Dean-Martin-Hut in Le mépris besetzt – und am Ende zum Star macht. Es ist zwar bereits Piccolis 53. Film. In seinen Erinnerungen erzählt er aber, dass er sich zu der Zeit noch als Debütant sah und sich bis ins Jetzt hinein wundert, wie Godard überhaupt auf ihn gekommen sei.
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Nach Le mépris wieder Buñuel: Le journal d’une femme de chambre. Zu seiner Entstehungszeit als ein Nebenwerk des Regisseurs angesehen: ein herbstliches Kammerstück in der Normandie, mit Michel Piccoli als lüsterner Gatte einer verklemmten Landgutsbesitzerin. Die Flinte ist sein bester Kamerad auf der Jagd, bis er in der frisch angekommenen Celestine (Jeanne Moreau) ein besseres Objekt(!) seiner Begierden entdeckt. Eine düstere Welt zwischen Intrigen, Triebhaftigkeit und Opportunismus. Auch handelt kaum eine der Personen psychologisch folgerichtig, was ein Grund sein mag, warum Michel Piccoli diese Arbeit besonders schätzte. Hat er sich doch Zeit seines Schauspielerlebens wenig um die Annäherung an eine mittlere Wahrscheinlichkeit in seinen Rollengestaltungen geschert.
In einem Interview erklärte er einmal, dass er Mikhail Bachtins Thesen zum grotesken Realismus anhänge: «Während der klassische Realismus die Wirklichkeit darstellt, wie sie den Normen, einer kulturellen Ordnung nach sein sollte, so zeigt der groteske Realismus die Wirklichkeit, wie sie trotz dieser Ordnung existiert.»
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Michel Piccoli ist ein Vollblutschauspieler und zugleich das Gegenteil dieses Klischees. Als Schauspieler lasse er sich nie in eine Rolle involvieren, erklärte er mehrfach im Verlauf seiner Karriere. Eher trage er, wie ein Marionettenspieler, die Figur neben sich her, sei ihr streunender Kamerad. Und weiter: «Gewiss fliessen manche Dinge von mir in die Figuren ein, aber um herauszufinden, was das eigentlich ist, müsste ich eine doppelte Psychoanalyse machen, eine von der Figur und eine von mir.»
Man wäre versucht zu sagen, dass er in der grossen Menge unterschiedlicher Filme, in denen er aufgetreten ist, immer sein Gesicht wahrte, wenn man nicht wüsste, dass er mit seiner Arbeit vielleicht nichts so sehr wollte, wie sein Gesicht zu verlieren. Man muss sich nur anschauen, wie er als Trainer der Croupiers in Louis Malles Atlantic City eine Kollegin (Susan Sarandon), die er eigentlich liebt, derb kujoniert, weil sie sich von einem umgestossenen Glas von ihrer Arbeit hat ablenken lassen; oder wie er in Les noces rouges von Claude Chabrol als spiessig-verknispelter Provinzpolitiker mit brünstiger Heftigkeit mit Stephane Audran Ehebruch begeht, sich die Kleider wie den gesamten gesellschaftlichen Rollenpanzer vom Leib reisst, darüber erst zum unschuldigen Kind und weiter zum ungezähmten Mörder wird.
Ralph Eue
Ralph Eue ist Autor, Kurator und Übersetzer. Er lebt überwiegend in Berlin.