Great Expectations: Britisches Nachkriegskino 1945–1957
Anarchische Komödien, finstere Thriller und packende Dramen: Mit dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann ein goldenes Zeitalter für das britische Kino. Die von Ehsan Khoshbakht für das Locarno Film Festival kuratierte Retrospektive «Great Expectations» präsentierte ein breites Panorama dieses britischen Filmschaffens, das vor Vielfalt und Lebendigkeit nur so strotzt. Im Zentrum der Reihe steht die Frage nach der Identität und der Alltagsrealität des Landes nach dem Krieg und wie diese sich im Kino widerspiegelte. Wir zeigen eine Auswahl dieses aussergewöhnlichen Programms und präsentieren neben Klassikern des britischen Kinos wie I Know Where I'm Going! (Michael Powell, Emeric Pressburger), Odd Man Out (Carol Reed), Night and the City (Jules Dassin) auch zahlreiche Raritäten wie Muril Box’ herrliche Reality-TV-Komödie Simon and Laura, packende Thriller wie Time Without Pity (Joseph Losey) oder Hell Drivers (Cy Endfield). Ein besonderer Höhepunkt erwartet uns am 25. und 26. November mit dem Besuch der Script Supervisorin Angela Allen, deren Karriere mit dem wohl bekanntesten britischen Film dieser Jahre, The Third Man, startete. Im Filmpodium wird sie über ihre lange Karriere und die Zusammenarbeit mit Regisseuren wie John Huston, Ken Russell und Stars wie Katharine Hepburn, Marlon Brando oder Marilyn Monroe sprechen.
Zwei Monate nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs läuteten in England noch immer die euphorischen Glocken des Sieges. Ihr lauter, freudiger Klang liess die Menschen vorübergehend den schmerzlichen Verlust fast einer halben Million gefallener britischer Soldaten und Zivilisten vergessen, auch die weitreichende Zerstörung der heimischen Städte und die schweren Tage, die noch vor ihnen lagen. Ein neuer Archers-Film kam in die Kinos – einer, der mehr von der Zukunft erzählte als von der Vergangenheit.
I Know Where I’m Going! (1945) von Michael Powell und Emeric Pressburger ist eine bildgestalterische Meisterleistung, ein Film über die Sinneswandlung einer unfreiwillig ge-strandeten Braut und die Erweckung ihrer sexuellen wie spirituellen Sehnsüchte. Während der ersten zwei Minuten einer originell-witzigen Titelsequenz krabbelt zunächst ein kleines Mädchen durchs Bild, das bald zu einer eigensinnigen jungen Frau namens Joan Webster (gespielt von Wendy Hiller) heranwächst. In einer Zeit der Lebensmittelknappheit und des allgemeinen Mangels ist die Braut eines Industriellen vornehmlich an irdischen Besitztümern interessiert; ihre Vermählung auf einer abgelegenen schottischen Insel steht kurz bevor. Doch es kommt anders: Als Joan auf dem Weg in den Highlands haltmacht, verhindern schlechtes Wetter und mysteriöse Kräfte, die von einer verfallenen Burg ausgehen, dass sie ihr endgültiges Ziel je erreicht. (…)
Der Film lässt die mühsamen Kriegsjahre hinter sich und wendet sich bewusst einem persönlichen Schicksal zu – das Leben eines einzelnen Menschen gilt hier nicht mehr nur als Teil eines grösseren Ganzen. Zwar erwies sich das Werk selbst noch als ein Produkt des Krieges; die Produktion profitierte nicht zuletzt von den Fähigkeiten emigrierter Künstler, wie etwa des bei Kriegsausbruch kurzzeitig auf der Isle of Man inhaftierten deutschen Bühnenbildners Alfred Junge. Und doch: Zu einer Zeit, in der sich das Land auf dem Weg des Wiederaufbaus, der Regeneration und Erneuerung befand, galt I Know Where I’m Going! als ein frühes Manifest für die Notwendigkeit, nach vorne zu schauen – vom Kollektiven hin zum Privaten. Im Abspann erscheint der Filmtitel erneut, aber diesmal fehlt das Ausrufezeichen – der Satz ist nicht länger ironisch gemeint. (...)
Jene Sorge und Hoffnung, die eine ungewisse Zukunft stets mit sich bringt, werden auch im Kurzfilm A Diary for Timothy (Humphrey Jennings, 1945) offenbar. Bei dem Werk handelt es sich um einen filmischen Brief an ein im September 1944 geborenes Kind, der zu erklären versucht, «warum wir kämpften». In seiner behutsamen Meditation über den Wunsch nach besseren Tagen stellt der Regisseur die hohe Kunst – hier repräsentiert durch Auszüge aus dem weltberühmten «Hamlet» von John Gielgud und der Einspielung deutscher Musik – explizit der allseits um sich greifenden Zerstörung gegenüber. (…) In der Sorge um den neugeborenen Jungen und der ihm verheissenen Zukunft erreicht A Diary for Timothy geradezu eine Dickens'sche Dimension – einen neu entdeckten Humanismus, der sich im Kino Bahn bricht.
Die britische Gesellschaft ahnte damals noch nicht, wie sehr sie seit 1939 «erwachsen» geworden war. Als es schliesslich hiess, sich erneut im Spiegel der Leinwand zu betrachten, sah sich das Volk angesichts seiner über Nacht erworbenen Reife regelrecht erschüttert. Auch in den anderen Künsten hallten die Schockwellen der Kriegsjahre immer wieder nach, bis hin zur ersten Single der Beatles im Oktober 1962. Das britische Kino der Nachkriegsjahre bestand bis weit in die späten 1950er-Jahre hinein vor allem aus posttraumatischen Dramen voller Blackouts, Gedächtnislücken, Schlaflosigkeit und Angst. Die Geschichten passten sich dem Alltag der Menschen an, der weiterhin – und nicht nur durch Lebensmittelkarten - streng vom Staat reguliert wurde. So erschienen die Nachkriegsjahre manchem, wenn auch weniger brutal, fast grauer und trübseliger als die Zeit der Belagerung. Plötzlich begann eine Nation, in ihrem Sieg auch ein Stück weit die Niederlage zu spüren. Und als die neue Labour-Regierung in den Jahren des Wiederaufbaus die Menschen für einen weiteren Krieg in Frie-denszeiten zu mobilisieren versuchte, ging das heimische Kino einen anderen Weg. Immer entschiedener widmeten sich die Filme existenziellen Fragen der individuellen Freiheit und des Selbstwertgefühls. (…)
Gejagt vom Realismus
Die Angst vor diesem neuen Individualismus kommt am besten in den sogenannten Filmen über «gejagte Männer» zum Ausdruck – ein Protagonist, oft ein ehemaliger Soldat, sieht sich auf der Flucht vor dem Gesetz, der Familie oder vor sich selbst, sei es in Odd Man Out (Carol Reed, 1947) oder in Hunted (Charles Crichton, 1952), wo ein Mörder (gespielt von Dirk Bogarde) mithilfe eines Jungen, der Zeuge seiner Tat wurde, aus dem zertrümmerten London nach Schottland flieht. Der sechsjährige Robbie hat nichts zu verlieren und schliesst sich dem Verbrecher an – alles ist besser als sein zerbombtes Zuhause bei den groben Pflegeeltern. Beide, das Kind und der Kriminelle, repräsentieren im Film durch den Krieg zerstörte Biografien: Der eine wurde seiner Kindheit beraubt, der andere seiner Jugend. Bald erkennt Robbie dieselbe Angst und Verletzlichkeit in Chris, dem Mörder, der dem unverhofften Komplizen seine Geschichte in Form einer Fabel erzählt. Letztlich stellt sich Bogarde. Er opfert sich für all die «Timothys» dieser Welt. Es ist ein hoher Preis, den er zahlt.
Hunted entstand im selben Jahr, in dem die Crown Film Unit (Anm.: eine staatliche Produktionseinheit, die während des Zweiten Weltkriegs zahlreiche dokumentarische Kurz-filme drehte) aufgelöst wurde. Crichtons bewegendes Drama zeugte einerseits von der düsteren Lyrik der britischen Dokumentarfilmbewegung, trug aber auch Spuren anderer Filmtraditionen in sich – vom Fatalismus des französischen poetischen Realismus über die Seelenpein des Film noir bis hin zum befreienden Pathos des italienischen Neorealismus. In seiner existenzialistischen Odysee thematisierte der Film eine zentrale Frage, die einen Teil des britischen Kinos seit Kriegsende beschäftigt hatte: Ist Realismus das einzige kollektive Mittel, um zu objektiver Wahrheit zu gelangen? (…) Hunted zeigt eindrücklich, dass ein Film nicht auf die Kraft des Realismus vertrauen muss; er setzt stattdessen auf die Einzig-artigkeit von Stimmung und Klangfarbe, einen Hauch Poesie und kreative Intrige. Die grossen britischen Werke der Nachkriegszeit waren jene, die sich transgressiver oder subversiver Les-arten realistischer Traditionen bedienten – oder die, wie in einigen berühmten Fällen, ganz auf Glaubwürdigkeit verzichteten, um stattdessen mit den Bräuten Draculas aufzuwarten. (…)
Der Rand der Insel
Die gekonnte Unterdrückung jeglicher Empfindungen sowie ein Höchstmass an Selbstbe-herrschung werden oft als typisch britische Charakterzüge angesehen. Wie in allen Klischees steckt auch darin mehr als ein Funke Wahrheit. Doch anders als im amerikanischen Kino, das Aufruhr und harte Brüche bevorzugt, gelingt es britischen Filmen immer wieder, Emotionen kunstvoll in kleinen Dosen und Variationen zu vermitteln. Immer wenn die Fassade bröckelt und Gefühle und Sehnsüchte an der Oberfläche kratzen, erzielen britische Werke eine doppelte Wirkung – sowohl durch die transgressive Kraft der Emotionen selbst als auch durch die Dekonstruktion eines vermeintlich soliden Fundaments aus Stoizismus und englischem Anstand. David Lean meisterte diese Kunst, jene feine äussere Membran zu durchbrechen, zunächst in seinem Klassiker Brief Encounter (1945), der zwei Monate nach Kriegsende in die Kinos kam. (…) Und auch The Passionate Friends (1949) unterstreicht sein nobles Unterfangen, das hier jedoch bereits ins Tragische umschlägt. Aufwendig ausgestattet von Kostümbildnerin Margaret Furse im ersten Jahr, in dem Kleidung in Grossbritannien wieder «couponfrei» erhältlich wurde, verliebt sich Ann Todds Mary – verheiratet mit Claude Rains' Howard Justin – in denselben stoischen Trevor Howard aus Brief Encounter. Diesmal jedoch verlieren sie keine Zeit, ihre Leidenschaft auszuleben, was dramaturgisch den Weg frei macht für Skandal und einen Suizidversuch. (...)
Die Konvergenz zwischen den grenzüberschreitenden Handlungen der Figuren und denen «ihrer» Filmemacher – indem sie diese Figuren zum Leben erwecken – führte zu einer einzigartigen und fruchtbaren Periode im britischen Kino. Die in dieser Retrospektive gezeigten Werke geben einen Einblick in jene Zeit mit all ihren grossen Erwartungen.
Ehsan Khoshbakht
Ehsan Khoshbakht ist Co-Leiter des «Il Cinema Ritrovato» Festivals in Bologna. Er ist Autor und Herausgeber diverser Bücher über das Kino sowie Dokumentarfilmregisseur. Sein Film Celluloid Underground (2023) war für den John Grierson Award nominiert.
Auszug aus dem Essay «Identification of a Nation: A View Into British Postwar Cinema» von Ehsan Khoshbakht (in «Great Expectations », hrsg. von Ehsan Khoshbakht). Übersetzung: Pamela Jahn
Das Filmpodium dankt dem Locarno Film Festival und Ehsan Khoshbakht für die gute Zusammenarbeit.