Víctor Erice: Elegien aus Licht und Schatten
Víctor Erice malt mit seiner Kamera Bilder von grosser Schönheit und Innigkeit. Etwas Geheimnisvolles und Wehmütiges liegt über den vier kostbaren Langfilmen, die er uns in seiner langen Karriere als Filmemacher geschenkt hat. Sie erzählen vom Verstreichen der Zeit, von Verlust – und der Melancholie, die damit einhergeht. Die Kunst, das Kino, die Kindheit und die Kraft der Imagination sind die Fixsterne, um die sich seine Werke drehen. Dabei sind die Filme des 1940 geborenen Spaniers nie weltabgewandt. Die politische Realität ihrer Zeit durchdringt sie; seien es der Beginn und die Ausläufer des Franco-Regimes in El espíritu de la colmena und El sur oder die Radionachrichten von kriegerischen Verwerfungen rund um die Welt inEl sol del membrillo, die dem Versuch des Malers Antonio López, die Schönheit eines Quittenbaums einzufangen, eine zusätzliche Färbung verleihen. Mit der gleichen Präzision und Intensität, mit der Erice an den langen Projekten arbeitet, gestaltet er auch seine zahlreichen Kurzfilme: Beiträge für Omnibusfilme, Vorstudien zu Langfilmen oder seinen filmischen Briefwechsel mit Abbas Kiarostami. Víctor Erice lehrt Kino. Er schreibt über Kino. Víctor Erice lebt Kino. Anlässlich der Premiere seines lang erwarteten neuen Werkes Cerrar los ojos ist er am 10. Dezember bei uns zu Gast. Ein rares Geschenk!
Die weit aufgerissenen, staunenden Augen eines Kindes, beleuchtet vom dämonischen Flackerlicht der Leinwand. Das Mädchen sitzt zum ersten Mal in einem Kino. Es entdeckt eine Welt, die sich nicht leicht von der sogenannten Wirklichkeit unterscheiden lässt. Es lacht und weint, erschrickt und versucht, den Geheimnissen der bewegten Bilder auf die Schliche zu kommen. Diese Szene könnte fast aus jedem der Filme Víctor Erices stammen. Niemand sonst hat so schillernd und geheimnisvoll Szenen der Verzauberung festgehalten und dabei gleichzeitig jene verzaubert, die ihnen beiwohnen. Es wurde viel daraus gemacht, dass der baskische Regisseur in den vergangenen fünfzig Jahren nur vier Langfilme drehen konnte. Die auch aufgrund von Produktionsbedingungen rar und dementsprechend sagenumwoben gebliebenen Arbeiten bearbeiten die irisierenden Felder, die sich zwischen dem Kino, der Kindheit, der Erinnerung und einem anhaltenden Verlustgefühl auftun. In seiner jüngsten Arbeit Cerrar los ojos wird das besonders deutlich, als ein alternder Regisseur nach einem verschollenen Schauspieler aus einem seiner früheren Filme sucht; und jenes Werk im Film basiert auch noch auf einem der Drehbücher, die Erice selbst nie verfilmen konnte. Der Filmemacher vor und hinter der Kamera sucht nicht nur nach einer Figur, sondern nach dem abhandengekommenen Kino und den Gefühlen, die sich nicht so leicht aus dem Vorwärtsdrängen der Zeit bergen lassen. Er interessiert sich für Geister, nicht im Sinne von Horror, sondern als beständige Präsenz des Vergangenen in der Gegenwart. Das Kino als Herberge dieser Geister ist allgegenwärtig in den Filmen. Das Cine Arcadia mit seinen verlockenden Plakaten am Eingang in El sur, das Cine Kursaal und die Erinnerung an bourgeoise Abgründe in La morte rouge, die kleine Leinwand im Klassenzimmer in Correspondencia, Abbas Kiarostami – Víctor Erice und das staubige Steinhaus, in dem um 1940 in einem entlegenen Teil Kastiliens Frankenstein projiziert wird, in El espíritu de la colmena. Mit Erice erlernt man von Neuem, ins Kino zu gehen wie ein Kind, um alles wie beim ersten Mal zu sehen.
Das Gewicht der Welt
Wer nun glaubt, die Filme würden in ihrer melancholischen Hingabe an die schönen Eskapismen der siebten Kunst die Welt aus den Augen verlieren, irrt. Bei Erice ist das Kino Teil einer politischen Wirklichkeit. Kunst entsteht unter dem «Gewicht der Welt», wie der Filmemacher es selbst formulierte. Das merkt man, wenn die Weltnachrichten aus dem Radio schallen, während der Maler Antonio López García in El sol del membrillo in seinem Garten eine Quitte malt. Das wird klar, wenn in El espíritu de la colmena und El sur die brutale Wirklichkeit der Franco-Diktatur und des Bürgerkriegs durch die Bilder treibt. Es wird deutlich, dass niemand einfach so ins Kino geht, vielmehr vermisst der Kinosaal die Grenzen zwischen Wirklichkeit und den Fiktionen, die sie provoziert. Das, was die Figuren auf der Leinwand sehen, spricht immer zu ihren Lebensumständen. Briefe werden verfasst. Sie reichen aus der Gegenwart in die Möglichkeitsräume. Der Vater schreibt ins Ungewisse seiner Vergangenheit in El sur, in dem ein junges Mädchen aus ihrer Perspektive von dessen Verstrickungen im Spanischen Bürgerkrieg und von seiner alten Liebe im Süden des Landes erfährt. Die Mutter in El espíritu de la colmena schreibt in eine naive, hoffnungslose Zukunft, als sie Liebesbriefe an einen unbekannten Adressaten schickt, ein Jahr nachdem Franco die Macht im Land endgültig übernommen hat. Während ihre Kinder sich ins Dorfkino flüchten und ihr Mann, ein Imker, mit Bienenstöcken arbeitet, schreibt sie gegen die Malaise ihres Lebens an. Die Welten, in denen die Figuren leben, reichen ihnen nicht. Sie werden angereichert von Träumen, unterwandert von Fantasien. Aber es sind keine luftleeren Räume, in denen sich die Phantasmen einquartieren, es sind vielmehr die Fenster des menschlichen Überlebens, die in schweren Zeiten das Licht einlassen. Auch Erice schreibt Briefe, beispielsweise in seiner Videokorrespondenz mit dem iranischen Filmemacher Abbas Kiarostami. Es sind kleine, zugewandte Nachrichten. Einmal zeigt Erice einer Schulklasse Kiarostamis Where Is the Friend’s House? und filmt die Reaktionen der Kinder. Kiarostami wiederum überlegt, wohin eine von Erice übersehene Quitte aus dessen El sol del membrillo reisen könnte. Das sind ganz simple Videos, die das ganze Kino in sich tragen. Meist lässt sich nicht genau sagen, von was Erices Filme handeln, sie halten sich in einer unbestimmten Schwebe, die genau jene Aspekte des Lebens berührt, für die es keine Worte gibt. Die schwierige Beziehung des Mädchens zum Vater in El sur ist ein Paradebeispiel hierfür, weil gerade das, was nicht gesagt wird, die Konflikte antreibt. Da der Dreh des Films nach etwas mehr als der Hälfte der vorgesehenen Drehtage durch den Produzenten Elías Querejeta aufgrund fehlender Finanzierung abgebrochen wurde, blieb er das faszinierende Fragment, das in seiner Unfertigkeit Filmgeschichte schrieb. Gerade das Unaufgelöste, sich im Obskuren Einnistende fügt sich so nahtlos in die Weltsicht Erices ein. In seinen zahlreichen Kurzfilmen hat Erice seine Themen weiterverfolgt. In Vidros partidos, einer Kurzdoku, die Teil des Omnibusfilmes Centro histórico ist, steht eine ältere Frau mit furchterregtem Gesicht vor Fotografien. Sie ist eine der Arbeiter:innen, die sich im Film an die geschlossene Textilfabrik erinnern, die sie einst beschäftigte. «Diese Menschen suchen mich heim. Sie schauen uns an, und es scheint, als wollten sie uns etwas sagen», sagt sie, als sie eine grossformatige Schwarzweissfotografie betrachtet, die im vergangenen Jahrhundert im Speisesaal der Fabrik aufgenommen wurde. Das ganze Kino Erices richtet sich auf das Kommende und Vergehende. «And life goes on», wie er einmal scherzhaft zu Kiarostami bemerkt, der einen Film mit dem gleichen Titel realisierte.
Das Licht der Welt
Wohl kein Regisseur seit Josef von Sternberg hat so betörend Licht gesetzt wie Erice. Fast würde sich anbieten, eine eigene Farb- oder Lichtnomenklatur seiner Filme zu verfassen. Da ist das Sepialicht, das die Bilder in El sur in ein proustianisches Begehren nach der Vergangenheit hüllt. Da ist das leuchtende Gelb der Quitte in El sol del membrillo, gefilmt im heraufdämmernden Glühlicht des Madrider Frühherbsts. Da ist das unwirkliche Gelb des honigtriefenden Bienenstocks in El espíritu de la colmena, der auch zur Metapher eines faschistischen Systems wird. Vielleicht sagt es viel, dass das Licht in Cerrar los ojos bisweilen wie aus den Bildern gesaugt scheint, ein milchiger Himmel über der Küste, graue Strukturen in einer Welt, die das Kino sucht. Möchte man diese Filme einer Jahreszeit zuordnen, ist es sicherlich der Herbst. Alles ist vergänglich und gedämpft, die Menschen gehen wie hypnotisiert durch Landschaften, deren Gewicht man in jeder Einstellung spürt. Schönheit ist ein komplexes Wort, bei Erice ist sie einfach da. Immer wieder überblendet er Bilder im Stile alter Hollywoodfilme, die er liebt. So zeigt er, dass Zeit vergeht, so macht er greifbar, dass ihr Vergehen unwirklich ist, wie wenn in El sur die Protagonistin als kleines Mädchen mit dem Rad davonfährt und nur Sekunden später als Teenagerin zurückkehrt. Die Zeit ist überall, etwa in den flüchtigen Momenten, in denen eine Quitte reift, ehe sie verfault. Die Zeit, die es braucht, um ein gerechtes Bild der Quitte zu machen, die Zeit, die dabei gleichzeitig vergeht. Oder in den mysteriösen Gegenständen wie einem Hypnosependel, einer Taschenuhr, einem glänzenden Uhrenpendel oder einer janusköpfigen Steinstatue, die allesamt von der Zeit erzählen. Die Zeit wirkt auch in der Schauspielerin Ana Torrent, die Erice für seinen El espíritu de la colmena als junges, kinoverzaubertes Mädchen entdeckte, ehe er sie im Kurzfilm Ana, tres
minutos und in Cerrar los ojos wieder besetzte, um so wie nebenbei von ihrem Altern zu erzählen. Kein Bild bleibt ewig, die Schönheit findet sich gerade in der Distanz zwischen einem Bild und dem, was es nicht mehr zeigen kann. Trotz der offensichtlichen malerischen Qualitäten der Filme bestechen sie auch durch herausragende Drehbücher, die bisweilen an grosse Entwicklungsromane des 19. Jahrhunderts erinnern. Erice berichtet von zerfallenden Häusern und schwierigen Familienkonstruktionen, in denen er die Rolle von Frauen in patriarchalen Gesellschaften beleuchtet. Mit literarisch anspruchsvollen Voice-overn wird das Innenleben von Figuren erforscht. Die sich in diesen Narrativen offenbarende Welt ist stets am Subjektiven interessiert, das bedeutet, an dem, was sich im Blick eines Kindes oder Malers oder alten Mannes verformt. Erices Filme scheinen immer im Rückblick zu entstehen, ein Bedauern und das Gewicht des bereits Gelebten liegen in den Bildern. Dass es dabei eigentlich unmöglich ist, die Gegenwart festzuhalten, ist das poetische Paradox der Filme, denen genau das so gelingt wie Antonio López García das mit der Quitte in El sol del membrillo: Der Maler scheitert in seinem Vorhaben, aber gerade weil er scheitert, fängt er das Stück Leben ein, das nicht entwischt. Ein Stück Vergänglichkeit vom Licht errettet.
Patrick Holzapfel
Patrick Holzapfel arbeitet als Autor, Filmemacher und freier Kurator. Im Juni 2024 erschien sein Debütroman «Hermelin auf Bänken». Er ist Herausgeber und Chefredaktor von «Jugend ohne Film». Das aktuelle Heft ist Víctor Erice gewidmet.