Dario Argento: Alle Farben der Angst
«Ich bin ein notorischer Angsthase, das weiss jeder, deswegen kenne ich mich mit diesem Gefühl so gut aus», sagt Dario Argento über sich selbst. Fast als exorzistischer Befreiungsschlag versucht er in seinen Filmen, diese Angst ins Unermessliche zu steigern, mit allen ästhetischen Kniffen herauszukitzeln. Der Maestro des Schauderns riss so den Giallo, den italienischen Thriller, aus den Fugen des braven Genrekinos, die Zuschauer:innen aus den Sitzen und Bewunder:innen und Nachahmer:innen weltweit in seinen Bann. In einer selbstbewussten, avantgardistischen Begeisterung für das Medium erwürgen schwarze Handschuhe erzählerische Logik, zerschneiden blitzende Messer die Gewissheiten unserer Sinneseindrücke, ertrinken Träume in blutenden Farben und krabbeln Insekten in unserer Psyche herum. Unsere fesselnde, (be)stechende und doch furchtlose Hommage vereint zu Argentos 85. Geburtstag nicht nur seine wichtigsten Werke, sondern stellt auch Querverbindungen zu seinen Vorbildern und Weggefährten her. Und nicht zuletzt wird uns der Maestro selbst am 4. Oktober im Abendgrauen besuchen, um mit Johannes Binotto in die Gründe und Abgründe, aber auch in die pure Poesie und Schönheit seines Werks einzutauchen. Keine Angst, es wird grossartig!
Eine blaue Wand, die sich wölbt und durch die plötzlich blutende Finger dringen. Ein Paar vor Angst weit aufgerissener Augen, unter die Hände in schwarzen Lederhandschuhen ein Band aus Nadeln klebt. Eine graue Wolke aus Fliegen, die surrend ein Haus umhüllt. Ein Rasiermesser, das im Dunkel der Nacht aufblitzt, und dazu ein Klang, der uns ins Ohr schneidet. Eine Tänzerin, die tot an einem Kabel aufgehängt in der korallrot gestrichenen Halle einer Villa baumelt, und ein Wohnzimmer unter Wasser, durch das ein verwesender Leichnam treibt. Wer sich die Filme von Dario Argento ins Gedächtnis ruft, erinnert sich nicht an deren Storys und Figuren, sondern an Momente wie diese. Es sind die schieren Farben und Formen dieser Filme, die sich uns einprägen, ihre verwirrenden Räume, in denen wir uns verlieren, und die mysteriösen Bewegungen der Kamera, von denen wir nicht wissen, wo sie uns hinführen. Es sind die pulsierende Musik, in deren Rhythmus unser Herz zu pochen beginnt, und die klirrenden Sounds, die uns zusammenzucken lassen wie der Stich einer Nadel. Das Kino von Dario Argento ist ein Destillat – die filmischen Ausdrucksmittel sind hier so sehr verstärkt, bis sie ihre erschreckendste Form erreicht haben und nichts mehr bleibt als reine Atmosphäre, pure Angst.
Kino der Atmosphäre
Als Argento sich in den 1960ern noch als junger Drehbuchautor zusammen mit Bernardo Bertolucci und Sergio Leone die Geschichte für C’era una volta il West ausdachte, soll Leone seinen beiden Kollegen erklärt haben, dass es im Western meist nicht um Figuren, sondern vielmehr um Landschaften und Stimmungen gehe. Am Ende sollte von den dreien wohl niemand diese Lektion eines atmosphärischen Kinos so radikal ernst nehmen wie Argento. Darum geht auch der gängige Vorwurf, dass seine blutrünstigen Horror- und Kriminalgeschichten lauter Löcher aufweisen oder dass die Verhaltensweisen seiner Personen jeglicher Psychologie spotten, letztlich ins Leere. Argentos Bruch mit klassischen Erzähllogiken ist gar kein Unvermögen, sondern nur eine Konsequenz daraus, dass seine Filme keiner anderen Regel folgen als der des eigenen audiovisuellen Mediums. Eine stringente Geschichte zu erzählen und psychologisch runde Figuren zu kreieren, das können andere Medien wie der Roman bereits bestens. Das Kino hingegen kann mit seinen Bilderwelten und Klanglandschaften unsere Sinne direkt in Beschlag nehmen, ohne Umweg übers analytische Denken. Das hatten schon die Surrealisten am Kino geliebt, und Argento reizt diese Möglichkeiten weiter aus. Sogar scheinbare Fehler wie etwa die Tatsache, dass bei Argento nicht nur in der englischen Fassung, sondern auch im italienischen Original die Figuren oft nachsynchronisiert werden und ihr Text folglich nie ganz zur Bewegung ihrer Lippen passen will, erweist sich als Vorteil: Das Spiel der Schauspielenden wirkt dadurch nur noch entrückter. Und wir im Publikum beginnen unseren eigenen Ohren und Augen immer weniger zu trauen.
Brennende Augen
Dieser Zweifel an der eigenen Wahrnehmung befällt dabei nicht nur uns im Saal, sondern auch die Figuren auf der Leinwand. Bereits in seinem ersten Film, L’uccello dalle piume di cristallo (1970), muss ein ahnungsloser Passant zusehen, wie des Nachts im hell erleuchteten Schaufenster einer Kunstgalerie ein Mordversuch geschieht, und wird danach bis zum Ende des Films das Gefühl nicht los, eigentlich etwas ganz anderes wahrgenommen zu haben. Auch die Hauptfigur aus Profondo rosso (1975) erinnert sich an ein Bild von einem Tatort, das es gar nicht gibt. Ausgerechnet von David Hemmings wird diese Hauptfigur gespielt, jenem Schauspieler, der neun Jahre zuvor mit Michelangelo Antonionis Blow-up berühmt geworden war. Dort war Hemmings ein Fotograf, der auf einem seiner Bilder eine Leiche entdeckt, die später nicht mehr zu finden ist. Bei Argento ist es umgekehrt: Die getöteten Körper liegen offen da, die Bilder aber beginnen vor unseren Augen zu zerfliessen, sie lösen sich auf und wir uns mit ihnen – so wie im späteren Meisterwerk La sindrome di Stendhal (1996), wo eine Polizistin von den Gemälden in den Uffizien von Florenz gleichsam verschluckt wird und für immer verändert aus ihnen zurückkehrt. Noch sein jüngster Film, Occhiali neri (2022), beginnt mit einer allgemeinen Wahrnehmungsstörung: Menschen stehen auf Wiesen und Plätzen und starren gebannt in den Himmel, wo sich eine Sonnenfinsternis ereignet. Doch wenn sich in Grossaufnahme die schwarze Scheibe des Mondes vor die Sonne schiebt, bis nur noch ein gleissender Ring bleibt, werden wir unsicher, ob in diesem Moment nicht auch unsere eigenen Augen unrettbar verbrannt werden. Wer in die Sonne starrt, brennt sich ein schwarzes Loch in die Netzhaut. Dafür strahlt umgekehrt ein Film wie Tenebre (1982) – der im Titel benannten Dunkelheit zum Trotz – neongrell. Solche optischen Verwirrungen haben bei Argento System, und wir verstehen darum auch, warum er in all seinen Filmen so exzessiv mit Farbe operiert. Denn Farbe ist unweigerlich immer auch Augentäuschung. Statt einer stabilen Eigenschaft der Dinge entsteht Farbe vielmehr immer nur als momentane optische Täuschung, als Brechung des Lichts auf unterschiedlichen Texturen und wird auch von jedem Lebewesen anders wahrgenommen. So wie die Insekten, die Argento besonders liebt, ultraviolettes Licht sehen können, blenden uns auch Argentos Filme mit ganz ungewohnten Tönungen: Die labyrinthischen Räume von Suspiria (1977) sind abwechselnd in rotes, grünes und blaues Licht getaucht – Farben, die nicht aus der vertrauten Realität, sondern aus einer grellen Fabelwelt zu stammen scheinen wie Walt Disneys Snow White and the Seven Dwarfs (1937), und tatsächlich hat der Regisseur sich auch von diesem Film und seinen Farben direkt inspirieren lassen und zog die Filmkopien von Suspiria auf einer der letzten italienischen Technicolor-Maschinen.
Endlose Gänge
Die grell erleuchteten Kammern von Argentos Filmen blenden dabei nicht nur unsere Augen, sondern lassen uns auch sonst unrettbar in die Irre gehen. Dass die Tanzschule, an der sich aller Horror von Suspiria entfaltet, an der Escher-Strasse liegt, hätte uns warnen sollen. Denn wie auf den Bildern von M. C. Escher, wo das Ende einer Treppe nur wieder an deren Anfang führt, gibt es auch aus Argentos Architekturen der Angst keinen Ausweg, weil ihre Bauweise keinen statischen Gesetzen gehorcht. In Tenebre dringt ein Killer auf der einen Seite in ein Haus ein und tritt dann doch von der anderen vor sein hilfloses Opfer. In Inferno (1980) befindet sich zwischen den Wänden eines Hauses ein ganzes anders Bauwerk, und wer in den Keller steigt, findet in diesem nur ein Loch, das in einen weiteren Keller führt, ad infinitum. Aus Kerkern, die wie eine Möbiusschlaufe auf sich selbst zurückgebogen sind, kann es kein Entrinnen geben. Wo wir einen Ausweg erhoffen, geraten wir noch tiefer hinein. Es braucht gar keine Killer und Gespenster mehr, um uns zu ermorden – der Raum selbst vernichtet uns, frisst uns auf. Schritt für Schritt. In seiner Autobiografie beschreibt Dario Argento als eine seiner frühesten Ängste den langen Gang in seinem Elternhaus. «Ins Bett zu gehen, war mein Albtraum. Ich hatte keine Angst vor der Dunkelheit wie andere Kinder. Nein, ich fürchtete mich vor dem Gang in unserer Wohnung, an dessen Ende mein Zimmer war. Dieser Gang voller Vorhänge und Fenster, schummrig beleuchtet, erschreckte mich. Ich stellte mir keine Monster, keine Hände vor, die mich packen wollten. Es war eine reine Form der Angst, absolut pur. Dieser Gang, den ich hinunterrannte.» Es scheint, als habe Argento mit seinen Filmen immer wieder genau diesen Gang neu gebaut. Diesen endlosen Gang, wo nicht die Dunkelheit den Tod bringt, sondern die leuchtenden Farben, und wo keine Monster uns verschlingen, sondern der Raum selbst. Sich in Dario Argentos Kino zu bewegen, heisst, diesen Gang hinunterzurennen. Und niemals anzukommen.
Johannes Binotto
Johannes Binotto, Ko-Kurator dieser Reihe, ist Kultur- und Medienwissenschaftler, Videoessayist und Filmpublizist. Seine Spezialgebiete sind die Phänomene des Unheimlichen und die Schnittstelle zwischen Filmtheorie, Technikgeschichte und Psychoanalyse.