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Days of Being Wild: Stimmen aus den Neunziger-Jahren

Die 90er-Jahre: Das Jahrzehnt zwischen Mauerfall und dem Fall der Twin Towers. Das Jahrzehnt der politischen Neuordnung und der technischen Innovationen. Aber vor allem auch: zehn Jahre, die die Popkultur nachhaltig prägten. Das Filmpodium lässt im Sommer die Neunziger wiederaufleben: mal auf Speed, mal melancholisch durchhängend, zum Beat von Technomusik oder dem Dröhnen von Grunge. Wild, romantisch oder gnadenlos nihilistisch – wir lassen Regiestimmen erklingen, die sich in dieser Dekade zum ersten Mal Gehör verschafften und bis heute mit ihren Werken den Diskurs prägen. Ob Indie-Film oder Blockbuster, eines ist fast immer klar: Reality Bites! Im Gespräch mit dem Pop-Theoretiker und Buchautor Jens Balzer fühlt Pascal Blum den Puls der 90er-Jahre; Les Videos feiert in der Lounge Obskures und Wildes aus dem VHS-Vor- und Abspann und die Kurzfilmtage beweisen mit einem Videoclip-Programm, dass ein dreiminütiges Musikvideo aus den 90ern aufregender und stilprägender sein kann als ein ganzer Langfilm. Die Neunziger wurden schon ausgedeutet, bevor sie überhaupt richtig losgegangen waren. Bereits 1992 schrieb der US-Politologe Francis Fukuyama vom «Ende der Geschichte» und perspektivierte aus diesem Jahr heraus eine Welt, in der sich nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die liberale, marktwirtschaftliche Demokratie als Regierungsmodell durchsetzen würde und globale Systemrivalitäten wie während des Kalten Kriegs der Vergangenheit angehören würden. 1994 sagte Fukuyamas Fachkollege Samuel P. Huntington dagegen antagonistische Zeiten voraus, denn ein «Kampf der Kulturen» würde neue globale Konflikte hervorbringen.

Beide Ansätze erwiesen sich fast sofort als hinfällig. «Das Ende der Geschichte» konnte nicht erklären, warum die Geschichte mit dem Ausbruch des Kroatienkriegs 1991 ganz offenkundig weitergegangen war und es auch danach kontinuierlich zu Kriegen – etwa auf dem Balkan – kommen konnte, die fernab der Konfliktlinie Kapitalismus versus Sozialismus verliefen. Der «Kampf der Kulturen» krankte von Anfang an an seiner begrifflichen Unschärfe, durch die mal Religionen, mal geopolitische Blöcke als «Kulturen» in Stellung gegeneinander gebracht wurden.

Im Nachhinein erweisen beide Ansätze aber eine gewisse emotionale Validität: Zu Beginn der Neunziger war offenkundig etwas so Grundlegendes zu Ende gegangen, dass aus der neuen Unsicherheit sofort das Bedürfnis entstand, mit neuen Begrifflichkeiten für alles Kommende gewappnet zu sein. Was damals zu Ende ging? Dem britischen Historiker Eric Hobsbawm zufolge nichts weniger als das 20. Jahrhundert. In seinem Buch «Das Zeitalter der Extreme» bezeichnete Hobsbawm das 20. Jahrhundert als «das kurze Jahrhundert», weil sich dessen prägende Konflikte und Prozesse innerhalb der Jahre 1914 bis 1991 vollzogen, also vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zum Ende der Sowjetunion.

Die Welt, die sie wollten

Folgt man Hobsbawm, waren die Neunziger somit gleichermassen Gegenwart wie auch schon Zukunft: Sie waren Teil des neuen Jahrtausends, bevor es überhaupt angefangen hatte. Diese zweifache Verankerung hilft zu verstehen, warum die Neunziger aus ihrer Zeit heraus so wenig zu greifen waren und es auch jetzt noch immer sind. Der britische Kulturwissenschaftler Jeremy Gilbert fand dafür 2015 schliesslich einen passenden Begriff: «the long nineties».

Eingeführt in dem Vortrag «Captive creativity: breaking free from the long ‹90s›» bezeichnete Gilbert die Neunziger als «lang», weil einige der entscheidenden Entwicklungen, die in diesem Jahrzehnt ihren Ursprung genommen hatten, für ihn weit über die Jahrtausendwende hinaus noch nicht abgeschlossen waren. Als Beispiele führte er die Hinwendung sozialdemokratischer Parteien zum neoliberalen Finanzkapitalismus oder den Aufstieg Chinas zur globalen Wirtschaftsmacht an.

Mit Gilbert lässt sich auch nochmal anders verstehen, warum die Analysen von Fukuyama oder Huntington scheiterten. Laut Gilbert sortierten sie die Geschichte nämlich nach Modellen und Kategorien, die zur Zeit des Schreibens hinfällig geworden waren. «Fragt euch doch nur, wer die Kulturkämpfe der Sechziger, Siebziger und Achtziger wirklich gewonnen hat», schreibt Gilbert in seinem Vortrag. «Wer hat aus diesen Konflikten die Welt herausgeholt, die er wollte?» Keinesfalls die Konservativen, nicht die alte oder neue Linke, noch nicht einmal die ideologischen Neoliberalen, so Gilbert. «Die Leute, die genau die Welt bekamen, die sie wollten – mit ihrer präzisen Ausbalancierung von gesellschaftlicher Liberalisierung, politischer Demobilisierung, globalisierter Produktion, vereinheitlichten kulturellen Inhalten und universeller Abhängigkeit von elektronischen Konsumgütern –, waren Steve Jobs, Bill Gates und deren Konsorten. Sie sind die wahrhaft hegemoniale Klassenfraktion unserer Epoche; die Leute, die die Beschaffenheit unserer materiellen Kultur und damit unsere Art zu leben direkt beeinflusst und de facto reguliert haben und das wirkmächtiger und ungehinderter als jede andere Gruppe auf der Welt.»

Eine neue Idee von Kino

Die Neunziger als das lange Jahrzehnt, das sich bis in unsere Gegenwart ausgedehnt hat – das lässt sich auch auf das Kino übertragen. Mit Beginn der Neunzigerjahre hinterliessen viele der prägenden Autorenstimmen unserer Zeit ihre ersten unverwischbaren Spuren in der Filmgeschichte. Quentin Tarantino, Wong Kar-Wai, Lars von Trier, Claire Denis, Aki Kaurismäki, die Coen-Brüder, Takeshi Kitano und Richard Linklater brachten jeweils Filme ins Kino, die sich dank ihrer Originalität sofort in der Gegenwart verankerten: Sie waren Stimmen aus ihrer Zeit für ihre Zeit.

Die Bandbreite des globalen Filmschaffens, durch das Hongkong-Kino und die Dogma95-Filme massgeblich nach Osten und nach Norden erweitert und etwa durch das New Queer Cinema vertieft, war zum Ende des Jahrzehnts so gross, dass 1999 mittlerweile als eines der besten Filmjahre aller Zeiten gilt – schliesslich entstanden in dem Jahr so unterschiedliche Klassiker wie The Matrix, Beau Travail, Lola rennt oder Todo sobre mi madre.

In diesen Filmen und mit ihrer Anhäufung verdichtete sich eine bestimmte Idee von Kino: von einem, das kulturell und kommerziell gleichermassen verfängt, das Oscars einfährt und Diskussionen auslöst. Die Produktionsfirma, die diese Idee scheinbar ideal verkörperte, war die von Harvey und Bob Weinstein – das Ministudio Miramax, das Publikumserfolge und Oscar-Gewinner wie Pulp Fiction oder La vita è bella verantwortete.

Die Zersetzung beginnt

Doch in dem Moment, in dem sich die Idee von einem kulturell und kommerziell tragfähigen Autorenkino verfestigt hatte, begannen auch die Zersetzungskräfte ihr Werk. 1994 wurde Amazon gegründet, 1997 folgte Netflix – die zwei Unternehmen, die im Kinobereich für die vereinheitlichten kulturellen Inhalte und die universelle Abhängigkeit von elektronischen Konsumgütern stehen, die Gilbert als Marker der neuen hegemonialen Verhältnisse nannte. Fast zeitgleich schlichen sich die Franchises in die Kinocharts ein: Erst mit der neuen Star Wars-Trilogie, dann mit The Lord of the Rings, den Harry Potter-Filmen, dem Kino-Reboot von Mission: Impossible, mit Spider-Man, Batman und den anderen Superhelden, bis 2011 erstmalig die Jahres-Top-Ten der US-Kinocharts komplett von Fortsetzungen dominiert waren. Das Zeitalter des IP, des intellectual property, war angebrochen, und mit ihm verfestigte sich das Amalgam aus technischer Innovation bei gleichzeitigem kreativem Stillstand, das der britische Musikjournalist Simon Reynolds kurze Zeit später im Pop mit dem Schlagwort «Retromania» versah.

Sind die Neunziger im Kino also vorbei oder dauern sie an? Beides ist der Fall, nur sind sie jetzt auf andere Weise doppelt verankert: Sie sind nun Gegenwart und Vergangenheit. Weil Autorinnen und Autoren wie Tarantino, Claire Denis oder Wes Anderson weiterhin aktiv sind und mit ihnen die Idee vom künstlerisch und kreativ erfolgreichem Arthouse weiterlebt, wirken die Neunziger nach wie vor als entscheidender Fluchtpunkt fürs Kino. Gleichzeitig sind die Kräfte, die es unmöglich gemacht haben, dass sich eine neue Generation von Autorenstimmen wie die aus den Neunzigern etablieren konnte, ungebrochen am Werk. Sich mit den «long nineties» zu beschäftigen, heisst deshalb, tief in die Vergangenheit einzutauchen – und doch mitten in der Gegenwart anzukommen.

* https://jeremygilbertwriting.wordpress.com/wp-content/uploads/2015/09/the-end-of-the-long-90s1.pdf
Hannah Pilarczyk

Hannah Pilarczyk arbeitet als Filmkritikerin beim «Spiegel».