Pierre Koralnik: Zwischen Kunst und Pop
Die Filme von Pierre Koralnik sind nur schwer auf einen Nenner bringen. Mit grosser Freude wechseln sie zwischen verschiedenen Genres, changieren mühelos zwischen Fernseh- und Kinoarbeiten und sind in unterschiedlichsten Ländern angesiedelt. Und immer wieder vor der Kamera: Künstler:innen wie Anna Karina und Serge Gainsbourg, Françoise Hardy und Udo Jürgens, James Baldwin und Louise Nevelson, denen Pierre Koralnik in Form von Spiel- oder Dokumentarfilmen filmische Denkmäler setzt. Mit einer eklektischen Auswahl von neun Filmen ehrt das Filmpodium Zürich den visionären Schweizer Regisseur, dessen Karriere Spuren in der audiovisuellen Geschichte der Schweiz hinterlassen hat.
Mit dem Diplom der französischen Filmhochschule Institut des Hautes Études Cinématographiques Paris in der Tasche trat Pierre Koralnik 1961 als Regisseur und Produzent in die Reihen des damals jungen Westschweizer Fernsehens ein. Zu dieser Zeit standen formale Aspekte des Bildes im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Fernsehens, und die Regisseure genossen eine grosse künstlerische Freiheit. Dieser günstige Nährboden beflügelte die Kreativität und Originalität von Pierre Koralnik, der in der Folge ein vielfältiges und bemerkenswertes Werk schuf, das von Reportagen über Künstler:innenporträts und Dramen bis hin zu Spielfilmen reicht. Diese aussergewöhnlich reichhaltige Karriere innerhalb des TSR setzte sich bis in die 2000er-Jahre fort.
Kunst im Fokus
Die zahlreichen Porträts, die Koralnik Künstler:innen und Persönlichkeiten widmete, darunter Denis de Rougemont, Rolf und Fredy Knie und Françoise Hardy, gehören zu den Glanzstücken seines Werks. Dieser diversen Künstler:innen gewidmete Strang seines Schaffens, den er parallel zu seinen anderen filmischen Arbeiten bis in die 1990er-Jahre fortsetzte, entfaltet sich mit grosser kreativer Freiheit und originellen Ansätzen, die es ihm ermöglichten, die Essenz der unterschiedlichen Künstler:innen einzufangen. In der Retrospektive zeigen wir Un étranger dans le village (1961), seinen gefeierten Dokumentarfilm über den grossen amerikanischen Schriftsteller James Baldwin, der auf dessen Aufenthalt in Leukerbad zurückblickt, Francis Bacon, peintre anglais (1964), den Koralnik ganz spontan drehte, als er eigentlich für eine Reportage über wirtschaftliche Probleme nach London geschickt wurde, sowie ein späteres Porträt der amerikanischen Bildhauerin Louise Nevelson (1980), in dem sie über ihre bewegte Karriere Auskunft gibt.
Neben diesen Künstler:innenporträts beauftragte das Westschweizer Fernsehen Pierre Koralnik mit mehreren grösseren Projekten, wobei er auch hier stets verschiedene Themenbereiche und Formate erforschte. Bis 1965 war er an der Produktion des politischen Magazins Le Point beteiligt, einer Sendung, die das internationale Geschehen dem Schweizer Publikum näherbrachte. Ausserdem drehte er zahlreiche Reportagen, insbesondere für die prominenten Sendungen Continents sans visa und Temps présent, in denen er sich mit Themen wie dem Nationalsozialismus (Les dossiers de la honte, 1964) oder der Einwanderung (Les Russes à New York, 1981) auseinandersetzte. Jahre später widmete er sich nochmals vertieft dieser Problematik mit Das letzte Versteck (2002), einem von der Schweiz und Deutschland koproduzierten Spielfilm über das Schicksal zweier jüdischer Schwestern, die vor der Deportation durch die Nazis fliehen. Als Vorlage für diesen Film diente Koralnik der autobiografische Roman «Die Reise» von Ida Fink.
Zwischen Pop und Chanson
Neben der Schweiz stellte Frankreich den zweiten wichtigen Arbeitsschwerpunkt dar. Dort setzte er sich intensiv mit Musik auseinander: Neben Varietésendungen wie Ni figue ni raisin (1964) drehte er eine Reihe von Musikspielfilmen, die bis heute wahrscheinlich zu seinen bekanntesten Werken gehören. Diese Filme, Höhepunkte in seinem Werdegang, zeichnen sich durch Kühnheit und Erfindungsreichtum aus: Auf innovative Weise verbinden sie Film und Musik und fangen zugleich den Geist der damaligen Zeit mit bemerkenswerter Originalität ein. Herausragendes Beispiel dafür ist Anna aus dem Jahr 1967, in dem sich ein junger Mann in das Bild einer Frau verliebt und sich danach auf die Suche nach ihr macht. Getragen von der legendären französischen Schauspielerin Anna Karina und den unvergesslichen Stimmen von Serge Gainsbourg und Marianne Faithfull, markierte Anna einen Wendepunkt in Koralniks Karriere. Nicht minder wichtig ist die mitreissende Produktion Françoise et Udo (1968) mit Françoise Hardy und Udo Jürgens in den Hauptrollen, eine von Chansons durchsetzte Liebesgeschichte, welche die mit Anna begonnene farbenfrohe Inszenierung der Verbindung von Musik und Film fortsetzte.
Weitere Spielfilme vervollständigen das heterogene Werk des Künstlers Pierre Koralnik: Literaturverfilmungen wie Le Rapt (1984) nach dem berühmten Roman von C. F. Ramuz, der in einer typisch schweizerischen Landschaft im Wallis gedreht wurde, oder Quartier nègre nach Georges Simenon, der vollständig in Kuba spielt. Koralnik schuf auch historische Fresken wie Die Königin von Saba (1974) und Salomé (1969) sowie nicht weniger ergreifende Sozialdramen wie La Sainte Famille (1973), ein erschütternder Film über religiösen Fanatismus anhand der Geschichte eines jungen Mädchens, das von einer fundamentalistischen christlichen Sekte verfolgt wird.
Diese Retrospektive knüpft an das seit 2023 von der Cinémathèque suisse, dem Geneva International Film Festival (GIFF), dem RTS und dem INA unternommene Projekt zur Erhaltung und Präsentation des Œuvres Koralniks an und würdigt die Vielfalt und den Reichtum einer Karriere, die die audiovisuelle Landschaft der Schweiz um schillernde Akzente bereichert hat.
Maral Mohsenin
Maral Mohsenin ist Director of Collection and Knowledge Sharing am Eye Filmmuseum in Amsterdam.