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The Power of Jane Campion

Die Heldinnen in Jane Campions Filmen müssen sich ihre Freiheit stets hart erkämpfen – sei es im Angesicht von gesellschaftlichen Ausgrenzungen, erdrückenden patriarchalen Strukturen oder familiären Tragödien. Die Suche nach der eigenen Identität und Stimme präsentiert sich für sie dabei nicht als eine Möglichkeit, sondern als überlebensnotwendig. Seit den 1980er-Jahren macht Jane Campion ihr ganz besonderes Kino, vielstimmig und stets überraschend. Ob Kostümdrama, Biopic, erotischer Thriller, Mystery-Serie oder wie zuletzt der Western The Power of the Dog, das Werk der Neuseeländerin begeistert nicht nur durch seine sensiblen wie kraftvollen Geschichten, sondern auch durch die überaus sinnliche Bildsprache und die mitreissende Mischung aus Poesie und Vitalität. Wir folgen Jane Campion in ihre Welt und präsentieren sämtliche Langfilme, eine Auswahl ihrer frühen Kurzfilme sowie die bahnbrechende Serie Top of the Lake. Unter den Preisen, die Jane Campion in den Jahrzehnten ihrer Karriere als Filmemacherin ansammeln konnte, ragt einer als ganz besondere Errungenschaft heraus. Es ist die Goldene Palme, die die Neuseeländerin 1993 mit The Piano in Cannes gewann. Sie war die erste Frau, der das gelungen war – und sie musste die Auszeichnung mit dem chinesischen Regisseur Chen Kaige (Farewell My Concubine) teilen. Dass sie bis zum Jahr 2021 (und Julia Ducournaus Titane) die einzige Regisseurin mit diesem Ehrentitel blieb, sagt vielleicht mehr über die strukturelle Misogynie des Arthouse-Filmbetriebs aus als über Campion selbst. Dennoch will es im Nachhinein so scheinen, als ob dieser Palmen-Gewinn Campion eine gewisse Aura und vor allem Respekt verschaffte – und ihr die künstlerische Freiheit gab, zu der Ausnahmeerscheinung in der internationalen Kinolandschaft zu werden, als die sie mit ihren mittlerweile 70 Jahren dasteht.

Wie so oft, wenn Frauen als Pionierinnen ihres Geschlechts gefeiert werden, lohnt es sich, hinter das feministische Label zu schauen. So stehen zwar in allen neun Spielfilmen – ihr erster, Two Friends (1986), war ein Fernsehfilm –, die Campion bislang realisiert hat, Frauenfiguren im Zentrum. Aber in keinem davon finden sich die modischen Narrative von Empowerment und Emanzipation so, wie man sie vielleicht erwartet. Zwar sind Selbstermächtigung und Unabhängigkeitsstreben für ihre Figuren oft wichtige Anliegen, aber Campions Filme fesseln, weil immer noch etwas hinzukommt. Sie handeln nicht einfach von unterdrückten Heroinen, die gegen die Ungerechtigkeiten ihrer Zeit rebellieren, sondern zeigen, wie in der Auseinandersetzung mit Widrigkeiten eigensinnige Persönlichkeiten entstehen. Schwierige, komplizierte Frauen, die oft bemerkenswert ungefällig, wenn nicht gar unsympathisch wirken können.

Ambivalente Enden
Diesen Mut zur Ungefälligkeit zeichnet schon ihr Kinodebüt Sweetie von 1989 aus. Die Titelheldin des fast grotesk überzeichneten Familiendramas ist ein regelrechtes Monster. Und doch begreift man am tragischen Ende, dass sich im Monströsen der Figur die versteckte Dysfunktionalität der Familie äusserte, dass Sweetie zwar ihre Umwelt tyrannisierte, aber doch auch ihr eigenes Opfer war. In An Angel at My Table, der verfilmten Lebensgeschichte der neuseeländischen Autorin Janet Frame, variiert Campion dieses Thema auf subtilere Weise. Janet, von dicklich-ungelenker Figur und mit unbändigem rotem Wuschelkopf, ragt ebenfalls aus ihrer Umgebung der ärmlichen Provinz heraus. Die strenge Erziehung, der tragische Unfalltod von zwei Schwestern und die Anlage zur Verschlossenheit führen das intelligente Mädchen in eine soziale Isolation, die Depressionen auslöst. Die Hilfen, die sie bekommt, arten jedoch in Fehldiagnosen wie Schizophrenie und fast in Missbrauch aus. Mit einer Art natürlichem Stoizismus und auch mit Glück gelingt Janet das Überwinden dieser unglücklichen Jugend. Aber sie bleibt ein komplizierter, einsamer, widersprüchlicher Charakter.

Für Holly Hunters störrische Klavierspielerin in The Piano gibt es ein rares Happy End, nachdem die kleine Frau ihrer äusseren Stummheit zum Trotz sich vehement gegen ihren gewalttätigen Siedler-Ehemann (Sam Neill) und für den erotisch offeneren Nachbarn (Harvey Keitel) entschieden hat. Das glückliche Entkommen stand so nicht unbedingt im Drehbuch: Ursprünglich hatte Campion geplant, ihre Figur mitsamt dem Piano im Meer versinken zu lassen. Als Vision ist dieser Tod im Film noch erhalten, nun zur Metapher einer Transformation geworden. Aber sei es Nicole Kidman als unglückliche Ehefrau in Portrait of a Lady, Meg Ryan als gefährlich lebende Grossstädterin im Thriller In the Cut, Abbie Cornish als sehnsüchtige Liebende in Bright Star oder zuletzt Kirsten Dunst als ihren inneren Dämonen ausgelieferte Frontier-Frau in The Power of the Dog: Campion liebt es, ihre Heldinnen mit einem ambivalenten Ende zu entlassen.

Manches Mal hat ihr das den Vorwurf eingebracht, nicht genug Einblick in das Innenleben ihrer Figuren zu gewähren. Warum fällt es Nicole Kidmans Isabel in Portrait of a Lady so schwer, von ihrem kalten Ehemann (John Malkovich) wegzukommen? Welche Gespenster der Vergangenheit treiben Elisabeth Moss’ Ermittlerin in Top of the Lake wirklich an? Wie gelingt es Kerry Fox’ Janet Frame, bei aller Unbill ihrer Lebensumstände noch Romane abzufassen? Aber Campion setzt in ihren Filmen eben weniger darauf, dass sich die Zuschauer:innen mit den Figuren melodramatisch identifizieren und mit ihnen mitfühlen, sondern sie möchte das Publikum vielmehr mit deren Entwicklung und deren Handelsweise konfrontieren. Darin liegt etwas viel Emanzipatorischeres: Campions Heldinnen sind nicht nur durch ihre Gefühle charakterisiert, sondern ebenso durch ihr Agieren, auch wenn Letzteres, bedingt durch den jeweiligen – für Frauen besonders eng gesteckten – gesellschaftlichen Rahmen, oft mit Zaudern und Hadern einhergeht.

Intensive Sinnlichkeit
Campions eigener Weg zum Filmemachen war kein geradliniger. Bevor sie sich an der Australian Film, Television, and Radio School einschrieb, studierte die 1954 in Wellington Geborene Anthropologie und Kunst. Beide Interessen lassen sich in ihrem filmischen Schaffen weiterverfolgen, einerseits in ihrer akribischen Aufmerksamkeit für visuelle Komposition, für das Zusammenspiel von Licht, Farbe und Textur, andererseits in ihrem präzisen Gespür für den jeweiligen soziokulturellen Hintergrund, sei es Neuseeland oder England im 19. oder Montana zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Zusammen bringen diese Elemente die intensive Sinnlichkeit hervor, die Campions Filme zum Erlebnis werden lässt.

Was darüber manchmal fast vergessen wird, ist Campions besonderes Talent sowohl bei der Besetzung ihrer Filme als auch bei der Schauspieler:innenführung. Man staunt, wie viele spätere grosse Stars man als junge Gesichter in ihren Filmen wiederfindet. Sie hat für The Piano die zehnjährige Anna Paquin entdeckt, die prompt den Oscar als beste Nebendarstellerin bekam. Ob Kerry Fox als Schriftstellerin Janet Frame oder Abbie Cornish als in den Romantik-Dichter John Keats (Ben Whishaw) verliebte Schneiderin: Immer wieder gelingt es Campion, sehr moderne Gesichter in vergangene Epochen zu transportieren. Sie markiert damit nicht etwa den Bruch zwischen den Held:innen im Zentrum und anderen, die nur den Zeithintergrund bilden, sondern schafft eine Selbstverständlichkeit, in der das Tragen – oder wie im Fall von Harvey Keitel in The Piano das Nichttragen – bestimmter Kleider völlig organisch erscheint. Und selbst in einem von steifen Umgangsformen handelnden Film wie Portrait of a Lady gewinnt sie Darsteller:innen wie Barbara Hershey, Christian Bale, Viggo Mortensen oder Shelley Duvall Auftritte von grösster Natürlichkeit ab. Die Menge an Nominierungen und Auszeichnungen, die es für das Figuren-Quartett Benedict Cumberbatch, Kirsten Dunst, Jesse Plemons und Kodi Smit-McPhee in ihrem letzten grossen Erfolg, The Power of the Dog, gab, spricht für sich. Bei den Oscars 2022 wurde Campion hochverdient – als erst dritte Frau – für die beste Regie ausgezeichnet. Fast 30 Jahre nach ihrer ersten Nominierung für The Piano war das eigentlich überfällig.
Barbara Schweizerhof

Barbara Schweizerhof lebt als Journalistin in Berlin, schreibt Filmkritiken (taz, Der Freitag) und arbeitet als Redakteurin bei epd Film.