Landrián: Lichtblicke aus Kuba
Eine aus der Zeit gefallene Insel einmal anders. Im Filmpodium kann man das revolutionäre Kuba neu entdecken. Durch die Augen eines Unzähmbaren: Nicolás Guillén Landrián (1938–2003). Seine kurzen Dokfilme aus den 1960er- und frühen 1970er-Jahren waren kühn, poetisch, einzigartig – zu freigeistig für das Regime des Fidel Castro. Landrián und sein Werk «wurden aus dem Verkehr gezogen», wie man so sagt, wenn man das Unerträgliche erträglich machen will. Jetzt, Jahrzehnte später, kommt endlich fast alles ans Licht: ein Teil von Landriáns Filmen, gerettet und restauriert, sowie die Geschichte dahinter, filmisch grandios erzählt von Regisseur Ernesto Daranas. Kuba erhellend und kompakt. Am 21.8. präsentieren wir diese Lichtblicke aus Kuba im Doppelpack und in Anwesenheit von Kurator und Autor Niels Walter. Zwischendurch gibt es Mojitos und Mariquitas zur Erfrischung.
Kuba, 1959. Triumph der Revolution. Ein Erdbeben. Ein junger Maler, gerade 20, denkt sich, diese Revolution, das ist mein Ding. Sein Name: Nicolás Guillén Landrián, ein Künstler mit einer unbändigen Kreativität. Sein Land ist plötzlich in der Weltöffentlichkeit, und er will etwas von dieser Welt sehen. Er tritt in die Diplomaten-Schule ein, aber die ist nichts für einen wilden Kerl wie ihn. Man wirft ihn raus, er geht zum Radio, danach zum staatlichen Filminstitut. Zunächst als Assistent für dies und das, dann darf er, dank Lehrmeistern und Mentoren, die sein Talent erkennen, als Regisseur im Departement für Dokumentationsfilme arbeiten.
Die Realität und die Ideologie
Der Neuling geht raus, in die Quartiere Havannas, aufs Land, zu den Leuten. Mit seinem ebenso talentierten Kameramann, Livio Delgado, fängt er scheinbar zufällig Bilder ein, mit einem Geist frei wie der Wind. Ohne Drehbuch und oft ohne direkte Tonaufnahmen. Die Mächtigen interessieren ihn nicht. Landrián filmt das Alltägliche, Menschen aus allen sozialen Klassen, Leute in feinen Kleidern, Bettler, Kinder barfuss auf der Strasse, fröhlich und frenetisch Tanzende, Rituale der Santería-Religion, Altäre, Gläubige, die in der Kirche Jesus preisen … dies alles in einem Land, das gerade den Klassenkampf und den Sozialismus ausgerufen hat, sein Volk umerziehen und den Neuen Menschen erschaffen will. Ein Land auf dem Weg zum Atheismus, wo es nur noch einen Glauben geben darf, den an die Revolution, und nur noch einen Gott: Fidel Castro. Landrián zeigt ein Kuba, das die Herrscher der Revolution mit allen Mitteln auf den Müllhaufen der Geschichte werfen wollen. Aber es sind nicht nur seine Bilder, mit denen er aneckt. Es ist auch das, was er mit ihnen macht. Am Schneidetisch. Er fügt spitzbübisch zusammen, was im neuen Kuba nicht mehr zusammengehören darf: Jesus neben Fidel und Lenin, stutzige Gesichter an Vollversammlungen, wirrer Buchstabensalat zu didaktischen Anweisungen. Er schiebt Zwischentitel ein wie zu Stummfilmzeiten, pfiffig und zweideutig, experimentiert mit Musik, Tönen und Stimmen. Für die damalige Zeit mutig und experimentell, aber nie agitatorisch. Aus all diesem Rohmaterial entstehen dokumentarische Juwelen, grosses Kino in Kürze. Für das offizielle Kuba sind es Verrücktheiten eines Verwirrten.
Überwachen und strafen
Die Verwerfungen bei einer Revolution und die Kontraste, die dabei entstehen, sind gewaltig, verstörend, bisweilen grotesk. Landrián wusste das wie niemand sonst einzufangen. In den ersten chaotischen Jahren existieren noch Freiräume und Freiheiten, gerade beim Film. Es wird zwar schon zensiert, aber es kommen auch Produktionen in die Kinos, bei denen man sich bis heute fragt, wie die durch die Zensur gerutscht sind. Man lässt Landrián einige Filme realisieren, eigene Werke und Auftragsfilme. Er gewinnt in Europa Preise dafür, in nicht sozialistischen Ländern. Noch ein Grund, weshalb dieser spleenige Schwarze ein Problem ist für die wachsamen Augen der Revolution. Vom grossen Bruder, der Sowjetunion, übernimmt Kuba mehr und mehr die Methoden des Stalinismus: Bespitzelung, Überwachung, Verhöre, Schauprozesse, Straf-, Arbeits- und Umerziehungslager, Folter, Ächtung, Vertreibung ins Exil, das ganze Programm. Landrián bekommt einen ersten Vorgeschmack: Hausarrest, mal da in einem Knast der Staatssicherheit, mal dort Zwangsarbeit auf einer Geflügelfarm, Elektroschocks und Pillencocktails in der Psychiatrie. Angeblich nicht wegen seiner Kunst, sondern wegen irgendwas sonst. Die Stasi findet immer etwas, um ihre berüchtigten Fallakten zu füllen. Bei Landrián: Marihuana, Kontakte zu falschen Leuten, liederliches Verhalten, ideologische Verwirrung, alles Mögliche, was für die sozialistische Gesellschaft eine Gefahr darstellen könnte. Raus aus dem Gefängnis und der Psychiatrie gibt man Landrián eine neue Chance, lässt ihn wieder Filme machen, didaktische und sonstige Auftragswerke für die Propaganda. Für einen wie ihn müssen es Strafaufgaben gewesen sein. Doch was tut der Gepeinigte in und mit seiner kurzzeitigen Freiheit als Erstes? Er schafft ein Meisterwerk: Coffea Arábiga (1968), ein Schelmenstreich über Fidels Kaffeeanbau-Grossoffensive um Havanna. Eine Art Schulfilm, wie man Kaffee säen, ziehen und ernten muss, rasant, dreist, gespickt mit Landrián’schen Einfällen, dass einem schier schwindlig wird. Ein avantgardistisches Propagandawerk oder ein genialer Racheakt? Eine Art doppelte Enttarnung: die eines vom System malträtierten, aber unzähmbaren Freigeistes und der kubanischen Realität, die kein bisschen weniger verrückt erscheint als er selbst. Starker Kaffee. Für Landrián ist danach wieder mal Schluss mit Film. Man sperrt ihn erneut weg.
Spurensuche und Ehrenrettung
In jener Zeit geht ein Knabe in Havanna an den Sonntagen oft ins Kino in seinem Quartier. Sein Name: Ernesto Daranas. In Nachmittagsvorstellungen sieht der junge Filmfreak immer wieder denselben Streifen: Ociel del Toa. Ein brillantes Frühwerk von Landrián. Der Kurzfilm über das Leben eines Jungen im entfernten Baracao ist nur ein Lückenfüller. Jedes Mal, wenn es ein Problem gibt mit dem Hauptfilm, spannt der Vorführer zur Überbrückung Ociel del Toa ein. Die Jungs und Mädchen im Saal pfeifen, sie können diesen Ociel nicht mehr sehen. Ernesto hingegen freut sich jedes Mal, er liebt diesen Film, weil er ihn an seine ersten Lebensjahre erinnert, in denen er mit seinen Eltern in jener Region gelebt hat, wo Landrián Ociel del Toa gedreht hat. Anfang der 70er-Jahre realisiert Landrián seine letzten drei von insgesamt 17 Filmen. Viele von ihnen enden mit dem Satz: fin – pero no es el fin, Ende – aber nicht das Ende. Vielleicht ein Gag, vielleicht aber sah dieser einzigartige Künstler schon damals Kubas traurige Zukunft voraus. Dass es – bis heute – noch nicht das Ende dieser Revolution ist, obwohl sie schon lange am Ende ist. Das Filminstitut wirft Landrián raus, er ist ein Geächteter, darf nirgends mehr arbeiten. Sein Werk verschwindet in der Vergessenheit, er selbst endet mittellos und stirbt mit 65 an Krebs im Exil. Ernesto Daranas, der Geografie studiert hat, landet eher durch Zufall ebenfalls bei Radio und Film und gehört heute zu den erfolgreichsten Regisseuren Kubas. Seine Filme (u. a. Conducta und Sergio & Serguéi) haben weltweit Preise gewonnen. 2019, bei einer Recherche im Filminstitut, erinnert sich Daranas zufällig an Ociel del Toa. Er fragt, was aus dem Streifen geworden sei, und erhält nur ahnungsloses Achselzucken als Antwort. Daranas denkt sich, das darf doch nicht wahr sein, geht ins Filmarchiv und erschrickt. Es ist ein perfektes Abbild seines Landes: in einem himmeltraurigen Zustand. Gestelle und Filmdosen, die vor sich hin rosten, aus vielen quillt aufgelöstes, giftiges Zelluloid. Die Archivare arbeiten in Schutzanzügen und mit Gasmasken. Daranas begibt sich auf eine Mission, die vier Jahre dauert: die Suche nach Landriáns Werk sowie die Rettung und Restaurierung von dem, was bis heute gefunden worden ist, zehn Filme. Während dieser fast schon archäologischen Sisyphusarbeit kommt Daranas auf die Idee, aus alldem selbst einen Film zu machen. Daraus entstanden ist Landrián, eine eindrückliche und bewegende Dokumentation. Eine längst fällige Hommage und wie Landriáns Werk ein Lichtblick von dieser Insel im scheinbar endlosen Sonnenuntergang.
Niels Walter
Niels Walter ist Journalist und Autor – er lebt in Kuba.