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Ousmane Sembène: Vom autodidaktischen Rebellen zum Filmpionier

Der Schriftsteller und Regisseur Ousmane Sembène wurde 1923 als Sohn eines muslimischen Fischers im Süden Senegals geboren. Er hat acht Romane und fünfzehn Novellen geschrieben und erst in seiner zweiten Lebenshälfte – zwischen 1963 und 2004 – zwölf Filme realisiert, sechs davon nach eigenen literarischen Vorlagen. Das Filmpodium widmet diesem Pionier des afrikanischen Filmschaffens südlich der Sahara eine umfassende Retrospektive und zeigt selten zu sehende 35-mm-Filmkopien sowie neue Restaurierungen. Eine rare Gelegenheit dieses herausragende wie militante Werk zu entdecken. Nur kurze Zeit besucht Ousmane Sembène die französische Grundschule in Dakar, denn er wehrt sich mit einer Ohrfeige gegen einen Lehrer, der ihn zwingen will, die «Marseillaise» auf Korsisch zu singen, und wird von der Schule verwiesen. Fortan eignet er sich die französische Sprache autodidaktisch an. Sprache wird für Sembène ein zentrales und auch ein politisches Thema. Mit Gelegenheitsjobs auf dem Bau und bei der Bahn schlägt er sich in Dakar durch, bis er 1942 – 19-jährig – in die französische Armee eingezogen wird. Als senegalesischer Tirailleur kämpft er mit 1300 westafrikanischen Leidensgenossen in Deutschland, Italien und Frankreich gegen den deutschen Faschismus. Traumatische Erfahrungen von Krieg und kolonialer Gewalt werden Thema zweier seiner epischen Filme: Emitaï (1971) über die Zwangsrekrutierungen junger Männer in seiner Herkunftsregion Casamance und Camp de Thiaroye (1988) über den Aufstand der Rückkehrer, die nach ihrer Demobilisierung ins materielle und moralische Nichts gefallen sind.

Als Docker in Marseille
Nach Kriegsende kehrt er illegal nach Frankreich zurück, arbeitet zunächst bei Citroën in Paris und zehn Jahre als Docker im Hafen von Marseille. Dort wird er nicht nur politisch aktiv – als Mitglied des PCF (Parti communiste français) und als Gewerkschafter bei der CGT (Confédération générale du travail) –, sondern auch literarisch, denn unter seinen Hafenarbeiter-Kollegen sind auch junge Schriftsteller aus Übersee, die ihm den Zugang zur Weltliteratur eröffnen. 1956 erscheint seine erste Novelle «Le docker noir» über Diskriminierung und Solidarität.

Vom Schriftsteller zum Film
Als Sembène Filmemacher wird, um auch seine analphabetischen Landsleute zu erreichen, wird er als engagierter Marxist von westlichen Filmschulen abgewiesen, erhält jedoch ein sowjetisches Stipendium und wird in den renommierten Gorki-Studios bei Sergei Gerassimow als Stagiaire aufgenommen. 1962 kehrt er nach Senegal zurück, im Gepäck eine alte russische 16-mm-Kamera, und dreht den 22-minütigen Kurzfilm Borom Sarret (1963) über einen Fuhrmann, der von der elenden Blechhüttenvorstadt in die schicken Quartiere des neokolonialen Zentrums von Dakar fährt. In seinem Filmerstling experimentiert Sembène gekonnt mit Brecht’scher Verfremdung; er zeigt im Bild ein mageres Pferd, das einen quietschenden Karren aus dem armen Vorort Medina in den modernen Stadtteil Plateau zieht, und legt über diese Bilder einen inneren Monolog des Kutschers in makellosem Französisch.
Aus heutiger Sicht dokumentiert dieser sehr schön restaurierte Film ein strahlendes, überaus modern konzipiertes Zentrum von Dakar und inszeniert auf der Bildebene in grandios einfacher Manier die enorme soziale und kulturelle Distanz zwischen der afrikanischen Peripherie und dem neokolonialen Zentrum. Ebenso originell spielt Sembène in seinem ersten abendfüllenden Spielfilm La Noire de… (1966) mit den westlichen Klischees, indem er in der Eröffnungssequenz ganz widersprüchliche Erwartungen weckt. Er inszeniert seine Protagonistin, als wäre sie nicht das auf der Erzählebene beschriebene schwarze Dienstmädchen. In ihrer eleganten Aufmachung könnte sie auch die Ehefrau oder die Geliebte eines weissen Mannes sein. Damit bricht der Regisseur mit dem Stereotyp der schwarzen Dienstbotin des Hollywoodkinos. Mit seiner innovativen Filmsprache gelingt es ihm, ganz neue Zusammenhänge aufzuzeigen.
In Mandabi (1968) verfilmt Sembène seinen gleichnamigen Roman über die Odyssee des Ibrahima Dieng, der von seinem Neffen in Paris eine Geldanweisung erhält. Der Amtssprache Französisch nicht mächtig, verliert er sich in der neokolonialen Bürokratie. Erneut ist das Thema – wie in Borrom Saret – eine fast linear inszenierte Reise von der Peripherie Dakars, wo sich der Protagonist in seinem Revier von beiden Ehefrauen wie ein Pascha königlich bedienen lässt, bis zum Postamt im Zentrum der Grossstadt, wo er, als Analphabet hilflos, seine Würde verliert. Das Nichtbeherrschen der Kolonialsprache wird ihm zum Verhängnis; er verliert den Grossteil des Geldes an korrupte Helfer.

Der erste Film in einer subsaharisch-afrikanischen Sprache
In Mandabi wirft Sembène einen ironischen, liebevollen und äusserst sinnlich inszenierten Blick auf seine eigenen Landsleute. Auch hier nicht kampflos: Es ist der erste afrikanische Film, in dem eine subsaharische Sprache – Wolof – gesprochen wird. Dies nach einer erbitterten Auseinandersetzung mit dem französischen Produzenten und dem CNC, der staatlichen Filmförderung Frankreichs, die in der nachkolonialen Ära zum Hauptgeldgeber des jungen westafrikanischen Filmschaffens wurde. Sembène besteht auf seiner Forderung, und als Kompromiss werden zwei Versionen realisiert: eine auf Wolof, Mandabi, und eine französische, Le mandat.
Mit Mandabi lehnt sich Sembènes filmische Erzählkunst an die orale Tradition der westafrikanischen Griots an und grenzt sich damit radikal sowohl vom westlichen wie vom sowjetischen Kino ab. Seine Filme richten sich in erster Linie an sein afrikanisches Publikum, das in der Mehrheit weder schreiben noch lesen kann und kaum Französisch spricht. Er hat damit einen Ort geschaffen für genuin afrikanische Geschichte und Geschichten. Das Kino als Abendschule für alle.

Widerstand gegen die Islamisierung
Mit Ceddo (1976) realisiert Sembène einen historischen Film über den Widerstand der Ceddo: Bauern, die sich im 17. und im 18. Jahrhundert zu Zeiten des Sklavenhandels der Islamisierung widersetzt hatten, «eine Reflexion über die Aneignung von Macht, über die Verantwortung der Religionen an der Entfremdung des afrikanischen Menschen», schreibt Sembène. Keine historische Rekonstruktion, sondern eine theatralisch anmutende filmische Inszenierung, unterlegt mit sich wiederholenden Klängen und Rhythmen des kamerunischen Jazz-Vibraphonisten Manu Dibango.
Ein religionskritischer Film, der so im heutigen Senegal nicht mehr realisiert werden könnte, herrscht doch in diesem westafrikanischen Land «eine Art religiöser Terrorismus», wie letztes Jahr in Cannes der senegalesische Regisseur William Ousmane Mbaye, bei Ceddo Regieassistent, an der Table ronde zu Ehren Sembènes zu dessen 100-jährigem Geburtstag bemerkt hat.

Afrikanische Heldinnen
In seinem letzten Lebensabschnitt nimmt sich Sembène eine Trilogie über das ganz alltägliche Heldentum vor, von der er nur noch zwei Teile realisieren wird: Faat Kiné (2001), eine städtische Komödie über eine erfolgreiche Geschäftsfrau in Dakar, sowie sein letztes Werk: den im ländlichen Afrika angesiedelten Moolaadé (2004). In Sembènes Dorf sorgen nicht nur die Dorfältesten, sondern auch die rot gewandeten Beschneiderinnen für Ruhe und Ordnung. Die eindrucksvoll ins Bild gesetzte Parabel über Gewalt und Würde ist unter freiem Himmel in der Morgen- und der Abenddämmerung gedreht. Unversöhnlich stehen sich darin das Alte und das Neue gegenüber. Die Heldin Collé widersetzt sich der Beschneidung ihrer Tochter und gewährt vier jungen Mädchen auf der Flucht vor der ihnen drohenden Gewalt Asyl; sie muss sich dafür von ihrem Mann öffentlich auspeitschen lassen. Dennoch steht in Moolaadé nicht die physische Gewalt im Vordergrund, vielmehr eine mit dumpfen Trommelklängen vergegenwärtigte Gewaltbereitschaft als Bestandteil einer archaischen Dorfkultur. Das Faktische konkurriert mit einer viel subtiler inszenierten symbolischen Dimension; afrikanischer Alltag ist darin in hohem Masse stilisiert.

Kompromisslos bis zum Schluss
Bis zu seinem Lebensende führt Sembène seinen Kampf gegen den westlichen Kulturimperialismus und die neokoloniale Haltung Frankreichs. Am panafrikanischen Filmfestival FESPACO in Ouagadougou, zu dessen Gründern er 1969 zählte, ist er bis zuletzt allen Empfängen der europäischen und frankophonen Hauptsponsoren ferngeblieben. Auch wegen seiner Kompromisslosigkeit hatte Sembène bei fast allen Filmen mit grossen Finanzierungsproblemen zu kämpfen. Seine Existenz bestritt er wesentlich mit Einnahmen als Autor. Seine Romane und Erzählungen waren in ganz Westafrika beliebt und galten mancherorts als schulische Pflichtlektüre.
Catherine Silberschmidt

Catherine Silberschmidt ist Filmkritikerin und studierte Filmwissenschaft und Ethnologie. Sie schreibt über experimentelles Filmschaffen von Frauen sowie über afrikanisches Kino aus Ländern südlich und nördlich der Sahara. Als Kuratorin hat sie Retrospektiven mit den Filmen von Germaine Dulac, Marguerite Duras, Vera Chytilova und Kira Muratova konzipiert.