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Rainer Werner Fassbinder: Irgendwo, eine Zärtlichkeit

Rainer Werner Fassbinder (1945–1982) schuf in gerade einmal 16 Jahren ein gigantisches Œuvre, das neben Spielfilmen auch Serien, Hörspiele und Theaterstücke umfasst. Dieses gleichermassen unterhaltsame wie herausfordernde Werk hat bis heute nichts von seiner Faszination eingebüsst. Das Filmpodium zeigt in Kooperation mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich 13 seiner Spielfilme sowie die engagierte und nur selten im Kino zu sehende Serie Acht Stunden sind kein Tag (1972). Richtig still ist es nie um ihn geworden: Rainer Werner Fassbinder. Der Autorenfilmer, bekannt als «nicht repräsentativer Repräsentant» des Neuen Deutschen Films, hinterliess Spuren nicht nur im Kino, sondern auch in der Popkultur. So nahm beispielsweise die inzwischen verstorbene Françoise Cactus, Sängerin der Berliner Band Stereo Total, Fassbinder und Schygulla in ihren Song «Cinémania» (2005) auf. Der queere Regisseur John Waters inszenierte in seiner Trashkomödie Cecil B. Demented (2000) eine Gruppe von Rebellen, die das Kino radikal erneuern will – der eintätowierte Schriftzug Fassbinder ziert auffällig den Arm einer Hauptfigur. Pointiert brachte es Harun Farocki auf den Punkt, als er von Fassbinder nicht ohne Ironie als «Popstar mit Brille» schrieb. Die Marke «RWF» ist über Fassbinders kurzes Leben hinaus zur festen Bezugsgrösse in Kino, Theater, Kunst, Literatur und Popkultur geworden. Fassbinders kritische Gesellschaftsanalysen und seine radikale Ästhetik halten sein Werk bis in die Gegenwart frisch, so eng es auch an seine Entstehungszeit gebunden ist. Mit dem Neuen Deutschen Film, zu dessen bekanntesten Vertretern auch Werner Herzog, Volker Schlöndorff und Alexander Kluge zählen, entstand in den 1960er- und 1970er-Jahren ein international erfolgreiches, innovatives Autorenkino in Deutschland, zu dem Fassbinder erheblich beitrug: Zwischen 1966 und 1982 drehte er 45 Filme, darunter auch mehrteilige TV-Produktionen wie die im Arbeiter:innen-Milieu angesiedelte Familienserie Acht Stunden sind kein Tag (1972) oder den stylishen Science-Fiction-Zweiteiler Welt am Draht (1973).


Pop-Appeal und Provokation
Mit seinem Pop-Appeal und einem Hang zur Provokation lädt Fassbinders Œuvre immer wieder von Neuem dazu ein, Querverbindungen zu aktuellen künstlerischen und politischen Diskursen herzustellen. Die Filmreihe «Irgendwo, eine Zärtlichkeit», kuratiert von Studierenden des Seminars für Filmwissenschaft der Universität Zürich, nähert sich seinen Filmen aus einer dezidiert identitätspolitischen sowie genreästhetischen Perspektive. Zwar grenzte sich Fassbinder nach der gescheiterten Revolution von 68 scharf gegen die emanzipatorischen Bewegungen seiner Zeit ab und geriet häufiger in Konflikt mit Vertreter:innen der politischen Linken, dennoch leisten Fassbinders Filme aus heutiger Perspektive einen vielschichtigen Beitrag, sich mit der Sichtbarkeit gesellschaftlicher Minoritäten und unterdrückter Lebensformen auseinanderzusetzen. Denn auf sehr direkte, mitunter schockierende Weise führte Fassbinder der deutschen Gesellschaft Mechanismen der Ausgrenzung, Ausbeutung und die Einsamkeit von queeren Menschen, Migrant:innen, Arbeiter:innen oder Hausfrauen vor.

Genre politisieren
Fassbinders an Theater und Film gleichermassen geschulte Ästhetik wirkt bis heute fort in die Filme zeitgenössischer Auteur:innen wie Athina Rachel Tsangari, Radu Jude oder Max Linz. Ob Melodrama, Komödie, Gangsterfilm, Science-Fiction, Komödie oder Western: Fassbinder verband klassische Genrevorlagen mit einer Brecht’schen Ästhetik der Verfremdung und verlieh seinen Filmen einen klaren politischen Drive. Besonders stark beeinflusst zeigte er sich von den Hollywood-Melodramen Douglas Sirks, von denen er 1971 einige in München gesehen hatte. Sirks Melodramen seien, so Fassbinder, die «zärtlichsten» Filme, die er kenne, «Filme von einem, der die Menschen liebt und nicht so verachtet wie wir». Mit dem Melodrama Händler der vier Jahreszeiten (1971) beginnt Fassbinder seine Figuren, bei aller sozialen Kälte, die sie umgibt, mit einer Zärtlichkeit wie bei Sirk zu zeichnen. Mit seinem der Schriftstellerin Marieluise Fleisser gewidmeten Frühwerk Katzelmacher (1969) und dem an Sirk orientierten verfremdeten Melodrama (1973) konfrontierte Fassbinder die Kinozuschauer:innen mit ihren Rassismen und warf einen scharfsichtigen Blick sowohl auf die Klassenverhältnisse als auch auf die Geschlechterordnungen seiner Zeit. Besonders mit dem vom Melodrama beeinflussten Einsatz von Licht und Farbe, mit Grossaufnahmen und Musik arbeitet Fassbinder ästhetische Versatzstücke in die Filme ein, die die Zuschauer:innen nicht nur denken, sondern auch fühlen lassen, weshalb sich die gesellschaftlichen Verhältnisse ändern müssen.

Beziehungsökonomien
Die Thematisierung von Paarbeziehungen zieht sich wie ein roter Faden durch die Filme Fassbinders. Das Schlachtfeld der heterosexuellen Ehe erzählt Fassbinder anhand einer sadomasochistischen Beziehung im melodramatisch überhöhten Film Martha (1973) oder spiegelbildlich dazu im Formenexperiment Fontane Effi Briest (1972–74). In beiden Filmen wird die Ehe den Männern zum Instrument, ihre jungen, unerfahrenen Frauen zu erziehen und sie von der Aussenwelt zu isolieren. Derart «toxische» Verhaltensweisen machen bei Fassbinder nicht vor homosexuellen Beziehungen halt. Einige seiner queeren Filme, wie das exaltierte Kammerspiel Petra von Kant (1972) oder das lehrstückhafte Sozialdrama Faustrecht der Freiheit (1974/75), setzen mit lesbischen und schwulen Paarkonstellationen Verhältnisse von sexueller und emotionaler Abhängigkeit ins Bild. Gleichzeitig erzählen die Filme ihre emotionalen Ausbeutungsgeschichten anhand von Klassenunterschieden zwischen den Figuren, sodass hier das Private einmal mehr politisch lesbar wird. Zum Politischen des Privaten gehört auch, dass Fassbinder seine eigene queere Sexualität nicht verbarg: In Faustrecht der Freiheit steht er selbst als schwuler Jahrmarktschausteller Fox nackt und verletzlich vor der Kamera.

Eine Ästhetik der Hoffnung
In Fassbinders Filmen stehen häufig scheiternde, buchstäblich an den Ökonomien der Beziehungen zugrunde gehende Figuren im Fokus. So enden die Filme meistens unversöhnlich wie das Leben. Eine überraschende Ausnahme bildet die Serie Acht Stunden sind kein Tag (1972): In einer 180-Grad-Wendung ändert Fassbinder sein pessimistisches Konzept und formuliert für das Massenpublikum des Fernsehens eine «Ästhetik der Hoffnung». Die Figuren der Serie können, anders als Fassbinders Kinofiguren, ihre Verhältnisse selbst durchschauen und Konflikte solidarisch miteinander lösen. Für kurze Zeit öffnet sich das Fernsehen hier für einen politischen Bildungsauftrag. Allerdings werden drei weitere Folgen, die bereits in Planung waren, nicht mehr realisiert. 1973 stellt der Sender die Fortsetzung der Serie ein.
Stefanie Schlüter

Stefanie Schlüter ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich und arbeitet als Filmvermittlerin im Schnittfeld von Kino, Archiv, Schule und Hochschule.


Im Frühlingssemester 2023 haben sich Bachelor- und Master-Studierende im Seminar «Fassbinder kuratieren» mit ihren Perspektiven auf das filmische Werk Fassbinders auseinandergesetzt und die Filme für dieses Programm ausgewählt.

Das Programm entstand in Zusammenarbeit mit dem Seminar für Filmwissenschaft der Universität Zürich im Rahmen des Projekts «Encounter RWF» des DFF – Deutsches Filminstitut & Filmmuseum. «Encounter RWF» wird gefördert durch die Art Mentor Foundation Lucerne, den Kulturfonds Frankfurt RheinMain und die Rainer Werner Fassbinder Foundation.