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Anime-Legende Satoshi Kon: Eine Reise durch sein filmisches Universum

Satoshi Kon hinterliess uns zwar nur ein schmales Œuvre – aber nicht weniger als eine Revolution: Mit technischer Brillanz und kreativer Virtuosität setzte der Meister der Illusion neue Massstäbe in der Animation. Inspiriert durch Klassiker wie Brazil verschmolz er Realität und Fantasie zu einem filmischen Tanz aus Anmut und Präzision. Seine kraftvollen Animes, von Perfect Blue bis Paprika, richten sich in erster Linie an ein erwachsenes Publikum und fordern bewusst die Grenzen des Blicks heraus. Ob Darren Aronofsky oder die Crew von Spider-Man: Into the Spider-Verse – Satoshi Kon beeinflusst die Filmwelt bis heute. Wir laden zur Begegnung mit Kons Animatorin Aya Suzuki und zum Serienmarathon mit Paranoia Agent – ein Fest der Animation für alle! Der Filmemacher und Anime-Liebhaber Guillermo del Toro drückt es treffend aus: «Satoshi Kon erreicht ein einzigartiges Mass an Tiefe und bleibt dabei völlig zugänglich und fesselnd.» Kon, der japanische Animationsfilmemacher, fasziniert in seiner Karriere Fans, Kolleg:innen und Kritiker:innen gleichermassen. Sein Werk ist zwar schmal, aber erstaunlich vielfältig und einflussreich. Er stirbt 2010 im Alter von 46 Jahren an Bauchspeicheldrüsenkrebs, während er an seinem unvollendeten Projekt Dreaming Machine arbeitet.
1997 gelingt Kon mit seinem Debüt, dem psychologischen Horrorthriller Perfect Blue, nicht nur der grosse Durchbruch als Regisseur, sondern er widerlegt auch gleich das Vorurteil, dass Animes nur für Kinder oder bestimmte Genres wie Fantasy oder Science-Fiction geeignet seien. Der wegweisende Film greift veränderte Realitätswahrnehmungen seiner Hauptfigur als wiederkehrendes Motiv auf und sollte prägend werden für sogenannte Mindgame-Movies, die ab den 2000er-Jahren in Hollywood immer beliebter wurden. Perfect Blue spielt in einer düsteren, beklemmenden urbanen Umgebung und erzählt die Geschichte der jungen Popsängerin Mima, die ihre Musikkarriere aufgibt, um Schauspielerin zu werden. Der Film verhandelt die Dualität von Realität und Illusion und nutzt dazu immer wieder Symbole wie Spiegel und Bildschirme.
Die visuellen Ähnlichkeiten zwischen Darren Aronofskys Black Swan (2010) und Perfect Blue sind frappierend – sei es in Bezug auf die Verwischung von Realität und Fantasie oder sei es die Fokussierung auf die Wahrnehmung der Hauptfiguren. Beide Filme behandeln Persönlichkeitsstörungen in Zusammenhang mit Ruhm und Identitätsverlust. Während Black Swan die harten Konkurrenzbedingungen beim Ballett und dem daraus resultierenden Leistungszwang als einzige Erklärung für die psychischen Probleme der Hauptfigur bereithält, geht Perfect Blue einen Schritt weiter. Der Film reflektiert nicht nur die Doppelrolle der Hauptfigur, sondern u. a. auch ihre sexuelle Identität und den Voyeurismus als Faktoren, die zu ihrer psychischen Instabilität beitragen. Aber auch der gesellschaftliche Druck, Erwartungshaltungen sowie die Entmenschlichung in einer von Image geprägten Unterhaltungsindustrie führen bei Mima zu einer gestörten Realitätswahrnehmung. Somit zeigt Perfect Blue den Zusammenbruch auf noch vielschichtigere Weise.

Einflüsse und kreative Ansätze
Bereits in jungen Jahren ist Satoshi Kon ein begeisterter Manga- und Anime-Fan. Die bahnbrechenden, dynamisch animierten Autoverfolgungsjagden in Miyazakis Langfilmdebüt Lupin III: Das Schloss des Cagliostro (1979) wecken Kons Interesse an Animationsprozessen. Zunächst studiert er jedoch Kommunikationsdesign und arbeitet als Comiczeichner, bevor er sich dem Film zuwendet. Er assistiert Katsuhiro Otomo bei der Manga-Serie «Akira» und wird beeinflusst von dessen Zeichnungsstil. Otomo ermöglicht Kon schliesslich den Einstieg ins Anime-Geschäft als Hintergrund-Designer, Hauptanimator und Layouter.
Kon lässt sich bei seinen Anime-Produktionen von westlichen Realfilmen inspirieren. Er studiert sie sorgfältig, um neue Techniken und Stile in seine Arbeit zu integrieren. Terry Gilliams dystopischer Film Brazil (1985) etwa entfacht Kons Liebe zu surrealen und fantastischen Welten und prägt seine Arbeit nachhaltig. Kons wichtigste Inspiration jedoch ist George Roy Hills Slaughterhouse-Five (1972), der kreativ unterschiedliche Zeit- und Realitätsebenen miteinander verwebt. Kon erklärt dem britischen Journalisten Andrew Osmond, dass er in seiner Arbeit nicht lineare Denkweisen visualisieren möchte: «Selbst wenn wir über etwas total anderes sprechen, können wir gleichzeitig an das Abendessen denken, das eine Stunde später stattfinden wird.» In Kons Meisterwerk Millennium Actress (2001) werden wir in einen berauschenden Zustand des Erinnerns versetzt und erleben die fesselnde Geschichte der berühmten Schauspielerin Chiyoko. Es ist ein Paradebeispiel dafür, wie Kon subjektive Zeit darzustellen weiss: Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit verschwimmen ebenso wie die Grenzen zwischen Realität und Fiktion. An dieser Stelle muss auch festgehalten werden, dass die Manga-Filmadaption Only Yesterday (1991) von Isao Takahata ein bemerkenswerter, wenn auch weitaus ruhigerer Vorläufer von Animes ist, die für ein erwachsenes Publikum konzipiert sind, geschickt verschiedene Zeitebenen miteinander vermischen und visuell Aussenschau und Introspektion überlagern. Der Film entführt uns in die ländliche Region Yamagata, wo die 27-jährige Taeko eine Auszeit vom hektischen Stadtleben nimmt. Only Yesterday hat eine nostalgische und verklärte Sicht auf die Vergangenheit und beschwört sie als etwas Positives und Wertvolles herauf. Für die junge Frau wird sie zum Anlass, sich neu zu erfinden. Im Gegensatz dazu zeichnet sich Kons Ansatz durch seine Vielschichtigkeit aus und hinterfragt idealisierte Vorstellungen vergangener Zeiten. Ein bemerkenswertes Beispiel dafür ist seine Arbeit an Memories (1995), einem dreiteiligen Episodenfilm, bei dem er das Drehbuch für den ersten Kurzfilm verfasste. Hier verhandelt Kon in einem verlassenen Weltraumschiff die menschliche Vergangenheit als eine verlorene Welt, in der wir Trost suchen, aber letztendlich nur Einsamkeit finden.

Kritischer Blick, Vertrauen ins Publikum
Die grundsätzlich gesellschaftskritische Sicht auf die Dinge zieht sich wie ein roter Faden durch Kons Schaffen. So auch in der ausgelassenen Tragikomödie Tokyo Godfathers (2003), mit der sich Kon neu erfindet. Inspiriert von John Fords Film 3 Godfathers (1948) entscheidet sich Kon für eine herkömmlich lineare Erzählweise, bricht aber gleichzeitig mit den Konventionen des Weihnachtsfilms: Statt einer fröhlichen Familie stehen drei Obdachlose im Zentrum der Geschichte. Tokyo Godfathers beschäftigt sich zwar auf den ersten Blick nicht mit den Themen Fiktion und Wirklichkeit, etabliert aber dafür einen Mechanismus, der das Fiktive sukzessive in das reale Leben der Hauptfiguren einbindet und im Klischee des Weihnachtswunders gipfeln lässt.
In Satoshi Kons letztem Film Paprika (2006) tauchen wir in eine von fortschrittlicher Technologie durchdrungene Welt ein. Der gleichnamige Roman von Yasutaka Tsutsui bildet die Basis für die aufregende Reise der Psychotherapeutin Atsuko Chiba, die mithilfe des revolutionären DC-Mini-Geräts als Traumfigur «Paprika» in die Träume ihrer Patient:innen eintaucht – bis der Apparat gestohlen wird. Der Film fragt danach, was für Chancen und Risiken es mit sich bringt, wenn Menschen mithilfe von Technologie in Träume anderer eintauchen. Er thematisiert den bedrohlichen Verlust der Privatsphäre sowie die Gefahren von zunehmender Entfremdung. Dabei beeindruckt er mit seiner virtuosen visuellen Ästhetik und fängt meisterhaft die Verbiegung der Realität ein. Im Vergleich zu Christopher Nolans Inception (2010), der optisch und inhaltlich starke Ähnlichkeiten zu Kons Film aufweist, bietet Paprika keine klare Unterscheidung zwischen Realität und Traum. Vielmehr vertraut Satoshi Kon auf unsere Interpretationsfähigkeit und spielt geschickt mit variierten Szenenwiederholungen, ohne eine abschliessende rationale Erklärung für das Geschehen zu liefern.
Satoshi Kon hat nicht nur die Real- und Animationsfilmwelt enorm beeinflusst, sondern auch international den Weg für unkonventionelle Anime-Kunst geebnet. Zum Beispiel für Masaaki Yuasas psychedelisch wilden Kultfilm Mind Game (2004), von dessen expressiven Zeichnungen Kon selbst fasziniert war. Sogar in US-amerikanischen Blockbustern wie Spider-Man: Into the Spider-Verse (2018) sind Kons Einflüsse spürbar. Koregisseur Rodney Rothman betont, dass Kon als sein leuchtendes Vorbild für den eigenen kreativen Prozess diente.
Lorenzo Berardelli

Lorenzo Berardelli, Verantwortlicher Kommunikation und Marketing beim Filmpodium (ab August 2023)