Nüschelerstrasse 11, 8001 Zürich - 044 415 33 66

< Zurück

Daniel Craig – Bond and Beyond

«James Blond», schimpften die 007-Fans, als Daniel Craig 2006 die Rolle des Agenten übernahm. Doch seither ist die Kritik verstummt; Craig hat Ian Flemings chauvinistischer Pappfigur ungeahnte Tiefe verliehen. Kein Wunder; davor hatte er sein Können in zahlreichen Arthouse-Filmen bewiesen. Zeit für einen Rückblick – und die komplette Bond-Saga von Casino Royale bis No Time to Die: Am 3./4. Juni sind ab Samstag, 17.30 Uhr alle fünf 007-Filme mit Daniel Craig in Folge zu sehen. Ergänzt wird dieses Bond-Binge-Weekend mit 007-Drinks und Zwischenverpflegung an der Bar sowie anderen Attraktionen. In weniger aufgeklärten Zeiten, so heisst es, war ein Gutteil des Kinopublikums davon überzeugt, die Schauspieler:innen würden ihre Dialoge in dem Moment erfinden, in dem sie vor der Kamera stehen. Auch heutzutage muss das kein Irrglaube sein, denn einige Vertreter:innen dieses Berufs sind tatsächlich Meister:innen der Improvisation. Die Urheberschaft der Rollen, die Daniel Craig verkörpert, geht freilich weit über die Gabe hinaus, sie gleichsam aus dem Stegreif mitzuschreiben.
Er nimmt sie auf andere Weise in Besitz: Er steht für ihre Glaubwürdigkeit ein. Er schafft jene Einheit zwischen Darsteller und Rolle, die für den amerikanischen Schriftsteller James Baldwin das Merkmal eines wirklichen Filmstars ist: Man schaut ihm nicht einfach nur zu, wie er agiert, sondern wie er ist. Natürlich ist das eine Illusion, aber im Fall von Craig eine überaus tragfähige und redliche. Man nehme nur einmal jenen Moment, in dem der Privatdetektiv Benoit Blanc in Knives Out (2019) im Auto warten muss. Üblicherweise würde ein Kinodetektiv diese Zeit damit verbringen, ein Kreuzworträtsel zu lösen oder die Quoten des nächsten Pferderennens zu studieren. Blanc jedoch hört sich einen Song von Stephen Sondheim an und singt ihn lauthals mit. Ganz abgesehen davon, was der Text von «Losing My Mind» über den Seelenzustand des exzentrischen und zu semantischen Spitzfindigkeiten neigenden Meisterdetektivs aussagen könnte, traut man Daniel Craig wirklich zu, dass er Sondheim schätzt und in diesem Moment gerade eine Heidenfreude an dem Stück hat.

Der Suchende
Der britischen Schauspieltradition wird gern nachgesagt, ihre Grösse verdanke sich der Fähigkeit, eine Figur dank überlegener Technik zu finden. Craig hingegen sucht sie. Sie schon gefunden zu haben, erschiene ihm als ein Mangel an Dynamik. Den Prozess der Aneignung will er nicht vorzeitig abschliessen, sondern er schaut, wohin ihn die Neugier auf die Figur noch führt.
Sehr britisch ist Craig freilich in seiner Wandlungsfähigkeit: Er ist flexibel. Als Roger Michell ankündigte, Ian McEwans Roman «Enduring Love» verfilmen zu wollen, ging die Branche davon aus, Craig würde die Rolle des Stalkers spielen, die tatsächlich Rhys Ifans übernahm. Craigs Leinwandpersona hatte zu diesem Zeitpunkt bereits einigermassen feste Konturen, aber diese sollten ihn nicht einengen. Für Michell verleiht er durchaus gegensätzlichen Figuren Gestalt. Der Philosophieprofessor in Enduring Love (2004) klagt, dass er nur Theorien entwickle, aber nie etwas mit seinen Händen geschaffen habe, das von Nutzen sei. Als Tischler in The Mother (2003), der das College nach zwei Wochen aufgab und nun einen Wintergarten für den Studienfreund baut, ist Craig ebenso trefflich besetzt. Auch darin ist er ein eminent britischer Schauspieler, den die soziale Mobilität fasziniert, die Aussicht, mit jeder Rolle in eine andere gesellschaftliche Sphäre vorzudringen.
In den ersten 15 Jahren seiner Leinwandkarriere zeigt sich Craig als ein «working actor», der sich auch auf der Bühne und im Fernsehen eine grosse Sichtbarkeit verschaffen will. Sein Arbeitstempo scheint rastlos, aber es kompromittiert seine Hingabe nicht. Von Love Is the Devil (1998) an setzt er sich furchtlos den Konflikten, Kränkungen und existenziellen Krisen seiner Figuren aus. Sie wollen um keinen Preis nur Spielball der Verhältnisse sein. Stets entwickelt er sie bis zu einem Punkt hin, an dem der Firnis der Zivilisiertheit zerbrechen kann. Umso verblüffender ist die Sensibilität des lebenshungrigen Tischlers, der in The Mother eine Affäre mit einer älteren Frau erlebt. Dieser Schauspieler ist ein Erfahrungssammler.
Mit Layer Cake scheint er 2004 eine erste Bilanz zu ziehen. Den Part des ehrgeizigen Gangsters, der keinen Namen hat, aber über ein an Zweifeln und Skrupeln reiches Innenleben verfügt, legt er als Initiationsgeschichte an. Der Film ist fasziniert von den Regeln des sozialen Aufstiegs – «never be too greedy» –, der Protagonist lernt, den Trug des Scheins zu durchschauen und die verdeckte Agenda des Lebens zu dechiffrieren. Craig ist reif, 007 zu werden.

Lizenz zum Töten, Denken und Empfinden
Mit Daniel Craig wird die Saga neu erfunden, indem sie zu ihren Ursprüngen zurückkehrt. Er ist der erste Bond seit Connery, von dem man sich nicht vorstellen kann, dass er einem englischen Club angehört. Seine gesellschaftliche und familiäre Herkunft, die in den bisherigen Kinoabenteuern nie von Belang war, darf plötzlich erkundet werden. Bond hatte mit einem Mal eine Biografie. Aus Waisenkindern werden die besten Rekruten, räsoniert M (Judi Dench). In ihr findet er eine skeptische und loyale Mentorin, die ihm die jugendliche Arroganz austreibt und ihn unbedingtes Misstrauen lehrt. Mit ihr verbindet ihn mehr, als sich Ian Fleming je hätte träumen lassen.
Die eng geschnittenen Anzüge trägt er anfangs noch mit Verachtung, bevorzugt Hemden mit kurzem Arm, die seinen Bizeps zur Geltung bringen, wächst aber rasch in ihre Eleganz hinein. Auch die hohe Kunst des Cocktailgenusses lernt er schnell. Craigs Bond hat Humor, kann aber auf die zynischen Einzeiler verzichten, mit denen seine Vorgänger die erledigten Widersacher verabschiedeten. Er bricht mit ihren Gewohnheiten, denn auch den Sex nimmt er ernster. Für Bond-Girls hat die Saga nun keine Verwendung mehr. An Craigs Seite ist viel Platz für tatkräftige, entschlossene Frauen. Seine frühen Missionen erfordern zuweilen noch taktische Anbahnungen. Wenn sie gelingen, ist eine Selbstgewissheit zu spüren, in die sich ein Hauch von Erstaunen mischt. Zusehends wird er zum Romantiker, der eine Maske aufsetzen muss, nachdem Vesper Lynd sein Herz gebrochen hat. Die Erkenntnis der eigenen Verletzbarkeit lehrt ihn Respekt vor anderen.
Zugleich verleiht er Bond eine frische physische Präsenz. In Actionszenen beweist er eine ungekannte kinetische Bereitschaft. Die Schlägereien werden länger als die seiner Vorgänger, und er steckt erheblich mehr ein. Manchmal zeigt er einen Masochismus, der seine Gegner zur Verzweiflung treibt. Seine eigentliche Feuertaufe ist die Verfolgungsjagd auf Madagaskar in Casino Royale (2006), wo Craig die Action in eine moderne Dimension führt: Sein Bond beherrscht Parkour, jene anarchische Fortbewegungsart, die sich an keine der Regeln hält, die Architektur und Urbanität vorgeben. Er steht mit einem Bein in der Gegenkultur und kann den öffentlichen Raum freizügig und souverän in Besitz nehmen.
Craigs Bond hört in all den Jahren nie auf, mit seinem Zuhause im MI6 zu hadern. Regelmässig kündigt er oder wird suspendiert. Alleingänge lässt er sich nicht austreiben. Seine Freiheit besteht darin, zu erkennen, dass ihm keine andere Wahl bleibt, als diesen Beruf auszuüben. Die ruppige Nonchalance, die er dabei anfangs an den Tag legt, weicht von Film zu Film einer rätselhaften Nachdenklichkeit. Er kostet den Sieg über seine Widersacher nicht mehr aus, denn mit ihnen stirbt auch ein Teil von ihm. Die Beweggründe des Agenten Seiner Majestät werden unerbittlich persönlicher. Craigs Hingabe an diese Rolle ist einzigartig. Er erzählt keine Heldenreise, sondern von einem emotionalen Reifen. Der Darsteller nutzt seinen Status, um präzedenzlos grossen Einfluss auf die Drehbücher zu nehmen. Er spannt einen erzählerischen Bogen, der den ersten und den letzten Teil des Zyklus unverbrüchlich verbindet: zu einem Entwicklungsroman, der Bond von einem gelehrigen Schüler zu einem wackeren Auslaufmodell werden lässt.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.