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Unicorn Timothée Chalamet

Ein Einhorn hat ihn Regisseurin und Freundin Greta Gerwig genannt, die Verschmelzung von Christian Bale, Daniel Day-Lewis und Leonardo DiCaprio. Und ihm eine grosse Zukunft vorausgesagt. Wie recht sie hatte! Mit dem sensiblen Coming-of-Age-Drama Call Me by Your Name von Luca Guadagnino hat sich Timothée Chalamet aus dem Nichts in die oberste Liga gespielt. Seither wechselt er mühelos und überzeugend zwischen abgründigen Rollen in Arthousefilmen – etwa als todessehnsüchtiger Junkie in Beautiful Boy – und galaktischen Hollywood-Grossproduktionen wie Denis Villeneuves Dune. Glamourös, abgründig, genderfluid. Eine Hommage inklusive Schweizer Kinopremiere von David Michôds The King und Christopher Nolans Interstellar auf 35-mm! Das erste Mal aufgefallen ist mir dieser schlaksige Junge 2014 in dem Science-Fiction-Film Interstellar von Christopher Nolan. Damals war er noch kein Wuschelkopf, sondern trug seine schwarzen Haare kurz und glatt. Timothée Chalamets Auftritt ist nur kurz – und dennoch blieb mir die Szene im Kopf, in der er sich von seinem Vater vor dessen Weltraummission verabschiedet. Irgendetwas war in seinem Blick, eine besondere Mischung aus Melancholie und Verzweiflung.
Denselben verletzlichen Blick sah ich drei Jahre später in dem Film wieder, der dem amerikanisch-französischen Schauspieler den Durchbruch und gleichzeitig seine erste Oscarnominierung bescherte: Call Me by Your Name. In Luca Guadagninos hinreissend schönem Film, der Anfang der 80er-Jahre in Norditalien spielt, ist Chalamet das erste Mal in einer Hauptrolle zu sehen. Als frühreifer 17-Jähriger verliebt er sich in einen Studenten, der seinen Vater bei wissenschaftlichen Recherchen unterstützt. Die Sommerromanze ist durchdrungen von poetischer Leichtigkeit, raffinierter Sinnlichkeit und tief empfundenem Schmerz. Bewegt hat mich der Moment, als der Vater den Sohn davor warnt, seinen Kummer zu vergessen. «Wir reissen so viel aus uns heraus, um schneller geheilt zu werden, und jedes Mal haben wir danach weniger zu bieten.» In der Schlussszene kumulieren alle Gefühle in Chalamets ausdrucksstarkem Gesicht. Man sieht, wie sein Herz zerbricht, und spürt die Verletzung, als ob es sich um die eigene handeln würde.
Seine beeindruckendste Darstellung lieferte Timothée Chalamet für mich jedoch als Crystal-Meth-Süchtiger in Beautiful Boy. Dort trägt er den zerstörerischen Narzissmus seiner Figur mit seiner ganzen Mimik und Gestik direkt nach aussen und wechselt dabei mühelos zwischen Verletzlichkeit, Angst, Aggression und Verzweiflung. Mit der ihm ganz eigenen Millennial-James-Dean-Attitude ist er weit entfernt von diversen Junkie-Klischees und bringt uns dazu, uns wirklich für seine Figur zu interessieren. Die traurigen Teenagerseelen, die Einsamen und Verlassenen, die Unverstandenen und auf ihre Art Rebellischen – genau die spielt der inzwischen 27-jährige Timothée Chalamet mit Bravour. Stets wirkt er verloren in einer Welt, die ihn nicht ganz fassen kann. Stets tanzt er mit einer rohen, authentischen Kraft trotzig-rockig auf dem Rand eines inneren Abgrunds. Ob als junger englischer König Henry V. in The King, der buchstäblich im Morast der Machtspiele versinkt, oder als komplexer Kannibale in Bones and All, der mit einem Trauma zu kämpfen hat.

Der suchende Kämpfer
Es scheint, dass Chalamet dabei viel aus seinen eigenen, persönlichen Erfahrungen zieht. Gross geworden in einer Schauspielerfamilie, äusserte er sich selbst schon einige Male dazu, dass seine Kindheit in New Yorks Hell’s Kitchen keine einfache gewesen sei – ohne nähere Details zu nennen. Besonders als Teenager – hier noch mit dem Ziel, Profi-Fussballer zu werden – habe er mehrmals mit seinem Verhalten angeeckt, mit seiner «Ich-gegen-alle-Mentalität». Das führte auch zu einigen Anlaufschwierigkeiten bei seiner Schauspielkarriere. An die renommierte LaGuardia High School of Music & Art and Performing Arts schaffte er es aufgrund seiner Auffälligkeiten in der Mittelschule erst im zweiten Anlauf. Einmal dort angekommen, blühte er auf, bekam eine wiederkehrende Rolle in der Serie Homeland, und dann ging es für ihn in Hollywood relativ schnell und steil nach oben. Die Schauspielerei, sagte er dazu, sei seine Leiter gewesen, um aus dem Loch herauszuklettern. Es sei das Einzige, was ihn erfülle. Das zeigt er nicht nur im Film, sondern auch regelmässig auf Theaterbühnen.
Für manche ist Chalamet der neue Leonardo DiCaprio, und in Bezug auf Werdegang und schauspielerische Qualitäten ist das nicht so weit hergeholt. Doch Chalamet steht erst am Anfang seiner Reise. Er wartet noch auf den Film, der für ihn das tut, was Titanic für Leonardo DiCaprio geleistet hat: ihn als Alphastar zu definieren – als jemand, der jede Filmszene zu einer Bühne für seine besondere Aura macht. Die Voraussetzungen dazu hat Chalamet, der über eine ungemein grosse schauspielerische Bandbreite verfügt, zweifellos. Er kann auf der Leinwand nicht nur ernst, sondern auch sehr witzig sein. Wie in Greta Gerwigs Lady Bird (2017) als abgeklärter Highschool-Lover oder in The French Dispatch (2021), wo er als studentischer Revolutionär durch die Skurrilität von Wes Andersons Welt wirbelt. Er überzeugt in Arthousefilmen genauso wie in Mega-Blockbustern à la Dune (2021). Seine facettenreiche Persönlichkeit, seine Ecken und Kanten ermöglichen diese Vielfalt.

Anziehende Ambivalenz
Nicht zuletzt spiegelt sich das auch in seinem selbstbewussten, futuristisch-surrealen Modebewusstsein wider, das irgendwo zwischen Haider Ackermann und Gustav Klimt pendelt. Er war der erste Mann auf dem Cover der britischen «Vogue» und unterstrich damit seinen Status als Stilikone. Auf diversen Events zeigt er sich mit Anzügen in Fuchsia, metallischem Silber und mit Blumenmustern – dann wieder in Glitzer, Grunge und im Hip-Hop-Style, rückenfrei oder mit blankem Oberkörper. Diese androgyne Breitseite krempelt die gängige Vorstellung von männlichem Stil derart um und definiert ihn neu, dass regelmässig über Chalamets sexuelle Präferenzen gemunkelt wird. Ist er nun hetero, schwul, bi oder pan? Es scheint fast, als würde ihn dieses Rätselraten amüsieren. Als würde er gern und so lange wie möglich ein wandelnder Widerspruch bleiben. Schaden tut das seinem Image jedenfalls kein bisschen. Im Gegenteil. Es vergrössert nur seine Fangemeinde. Und es macht ihn zu einem Schauspieler, der sowohl ein Produkt seiner Zeit ist als auch aus ihr herausfällt.
Chalamet ist weit mehr als der gut aussehende Posterboy, dem alles egal ist. Er ist einer, der sich Gedanken macht und sich der Verantwortung bewusst zu sein scheint, die der Erfolg mit sich bringt. Auf dem letztjährigen Venedig Film Festival äusserte er sich bei der Bones and All-Pressekonferenz zu Isolation und Ausgrenzung. «Ich kann mir kaum vorstellen, wie schlimm es für Teenager heute ist, in dieser Social-Media-Bubble, in der man ständig bewertet wird, aufzuwachsen und herauszufinden, wohin man gehört. Ich glaube, der gesellschaftliche Zusammenbruch liegt in der Luft. Deshalb sehe ich meine Rolle als Künstler auch darin, ein Licht auf das zu werfen, was vor sich geht.» Vielleicht liegt darin das Geheimnis seines Erfolgs. Die hollywoodsche Extravaganz verzeiht man einem Timothée Chalamet eher als anderen Nachwuchshoffnungen seiner Generation. Weil er trotz all des Glamours geerdet scheint und irgendwie nahbar in all seiner Unnahbarkeit. Weil er sich seinen Ängsten und Fehlern stellt und daran wachsen will. Ich wünsche ihm, dass er den schwierigen Balanceakt meistert, der hellste Stern am derzeitigen Filmhimmel zu sein und sich – ganz Unicorn – trotzdem selbst treu zu bleiben.
Sarah Stutte

Sarah Stutte ist Filmjournalistin und Autorin.