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Cinema Seen Through the Eyes of: Cyril Schäublin

Nach der britischen Regisseurin Joanna Hogg bitten wir mit dem Schweizer Filmemacher Cyril Schäublin zum zweiten Mal einen Filmschaffenden um seinen ganz persönlichen Filmkanon: fünf Filme, die Cyril Schäublin für filmhistorisch relevant hält und die für ihn als Person oder für sein Werk wegweisend waren. Und fünf aktuelle Filme, in denen er visionäres Potenzial sieht, die eine Richtung vorgeben, in die sich die Filmkunst seiner Meinung nach entwickeln sollte. Die Regeln sind natürlich wie immer da, um gebrochen zu werden … Im Interview mit Pascal Blum verrät Schäublin, was ihm diese Filme bedeuten. Das Gespräch hat beiden so viel Spass gemacht, dass sie es am 2. Mai im Filmpodium fortsetzen werden. Sie sind eingeladen, mitzudiskutieren. Herr Schäublin, Sie haben für «Cinema Seen Through the Eyes of …» elf lange und sechs kurze Filme ausgewählt, die für Sie wegweisend waren. Keine einfache Aufgabe. Wo haben Sie angefangen?
Schon oft haben mich Freunde gefragt, ob ich ihnen eine Filmliste geben könne. Ich fand dies immer eine schöne Aufgabe, und es ist lustig zu sehen, wie sich die Listen über die Jahre verändert haben. Ich hatte also schon einige Listen als Ausgangspunkt. Auf vielen war zum Beispiel Mrs. Fang von Wang Bing drauf, ein Film, der eigentlich allen Leuten, die ich kenne, sehr gut gefallen hat.
Es braucht aber schon eine gute Portion Geduld? Gerade für Wang Bing, der den Abschied von einer sterbenskranken Frau zeigt. Oder für die Zugbeobachtungen von James Bennings RR, das ist auch eher langsam.
Ich erinnere mich immer wieder gerne an ein Interview, das Fritz Lang in den 60er-Jahren gegeben hat und das man auch auf Youtube findet. Er sagt darin, dass es, als er Ende der 1910er-Jahre zu arbeiten begonnen habe, noch keine Genres gegeben habe und dass er Mitleid mit den jungen Filmschaffenden der 1960er-Jahre habe, die in so vielen Kanälen und Genres denken müssten. Ich glaube, es ist wichtig, die heutigen Definitionen des Kinos und die Vorstellungen, wie es genau aussehen sollte, nicht so ernst zu nehmen. Das betrifft Menschen, die Filme machen, aber es betrifft auch das Publikum. Wir können uns immer noch in einen Anfangszustand des Kinos der 1910er- und 1920er-Jahre hineinversetzen. Wang Bing und James Benning bewegen sich in ihren Filmen in diesem geheimnisvollen Zustand, aber eigentlich tun dies meiner Ansicht nach alle Filme dieser Auswahl. Mir selber dämmert es jedenfalls auch oft, dass das Kino noch so viele Möglichkeiten beinhaltet, sodass ich eigentlich immer noch gar nichts darüber weiss.
Das ist doch etwas kokett? Sie haben ja schon zwei Kinofilme gedreht.
Es stimmt aber wirklich. Wenn ich zum Beispiel in einem Hotelzimmer bin und jemand neben mir durch die Fernsehkanäle zappt, bin ich immer wieder erstaunt, denn sogar eine «Tagesschau» kommt mir experimentell vor. Am Ende ist doch eigentlich jeder Film ein Experimentalfilm und tut irgendetwas, das dürfen wir nicht vergessen. Trotzdem gibt es in der Film-Liturgie so etwas wie Zentren, wo Nachrichtensendungen und Nestlé-Werbungen entstehen, wo Standards reproduziert und zementiert werden. Und es gibt die Randgegenden, wo Ungewisses geschehen kann. Dort wird es spannend.
Dene wos guet geit und Unrueh lassen uns Zeit, um auch einfach mal zu schauen. Ist es das, was Sie am geduldigen Kino von James Benning fasziniert?
Die Filme von James Benning können uns sicher dazu verleiten, die Organisation unseres eigenen Blicks im Kino zu erforschen und uns zu fragen, warum wir eigentlich in diesen Einstellungen in ein Dahin und nicht in ein Dorthin schauen. Diese Fragen kann man sich auch jenseits des Kinos stellen, wo es um den eigenen Blick geht.
In vielen Filmen Ihrer Auswahl spielt die Ökonomisierung der Beziehungen eine Rolle. Von Der Mann mit der Kamera, wo die modernen Maschinen auftauchen, bis hin zu den Klassenfragen in Saint Omer. Trifft die Beobachtung zu?
Klar, dieser Moment, wenn das Kapital seinen phantomhaften Einfluss auf unsere Beziehungen ausübt, scheint mir immer noch traumhaft, schrecklich und irgendwie auch komisch. Diesen Kapital-Druck auszuhalten, wie machen wir das alle? In den Anfängen der Industrialisierung, in der ja auch das Kino als neue Technologie erfunden wurde, ist in dieser Hinsicht sicher viel geschehen. Und wenn man selber Filme macht, steckt man ja schon mitten in diesem Feld drin, muss Kapital, Zeit, Menschen und Maschinen irgendwie miteinander arrangieren.
Da passt auch The Only Son von Yasujiro Ozu dazu: Eine Mutter verarmt, weil sie ihrem Sohn eine bessere Ausbildung ermöglichen möchte.
Auf jeden Fall. Wenn ich mich richtig erinnere, spielt die Ökonomisierung der Familienbeziehungen in fast allen seinen Filmen eine Rolle. Die Frage, wie die Menschen dies aushalten, diese Angst, zu verarmen, es nicht zu schaffen, nicht zu bestehen in diesem ökonomischen Spiegelkabinett oder wie auch immer man das bezeichnen möchte. Es ist äusserst erstaunlich, wie viele Produktionen in der Filmgeschichte diese Versprechen der kapitalistischen Ordnungssysteme, also Situationen der Belohnung oder eines erfüllten Träumchens, bis heute immer wieder umsetzen und filmisch reproduzieren.
Sie suchen etwas anderes.
Wenn wir von ökonomischen Verstrickungen reden, sind das ja Erzählungen, die sich uns als Wirklichkeiten präsentieren: Wenn du eine gewisse Zeit pro Woche arbeitest, kriegst du einen entsprechenden Lohn und kannst das Geld für bestimmte Dinge ausgeben. Das ist aber keine Wirklichkeit, sondern ein konstruiertes Spielchen. Und das Kino trägt die Möglichkeit in sich, die illusorischen Regeln oder Gewinnversprechen des Spielchens zu zementieren und zu bebildern – oder das Spielchen als solches sichtbar zu machen. Wenn das Kino uns diese konstruierten Mechanismen zeigt und darstellt, wie oft wir ihnen ausgeliefert sind, dann kann es das kapitalistische Phantom sichtbar machen. Und dann kann in einem Film jene Magie oder Poesie beginnen, die uns daraus herausführt. Es können neue Spielchen und Erzählungen erfunden werden, im Kino oder auch darüber hinaus.
Etwas überraschend fand ich in diesem Zusammenhang, dass Robert Altmans Gosford Park auf Ihrer Liste steht. Funktioniert der Film nicht nach Standards der Gesellschaftssatire? Gegen solche Normen wollen Sie doch angehen.
Gosford Park ist für mich ein Film über Zentren und Ränder, aber einmal umgekehrt. Wir erfahren jetzt zum Beispiel, was die marginalen Bediensteten erleben. Es kommt ja auch zu einem Mord, aber dafür scheint sich Robert Altman nicht zu interessieren. Sondern er begibt sich in diese äusserst seltsame Zone, in der verschiedene Klassen aufeinandertreffen, wo sie untereinander ihre Arbeits- oder Liebesbeziehungen oder Angestelltenverhältnisse verhandeln. In dieser Zone stehen auf sehr lustige und auch verwunderliche Weise alle irgendwie am Rand, weil es da
s Zentrum hier vielleicht gar nicht gibt. So wie es klare Ordnungen oder verortbare Zentren auch im Leben gar nicht wirklich gibt. Gosford Park ist einer meiner absoluten Lieblingsfilme und passt für mich da sehr gut hinein, weil der Film so dezentralistisch und gleichzeitig unglaublich präzise gebaut ist und trotzdem diese «Hä?»-Impulse vermittelt, die mich interessieren.
Diese was?
Die «Hä?»-Impulse, die uns antreiben können, in ein Noch-nicht-Verstehen zu gelangen. In einen Zustand des Erst-noch-herausfinden-Könnens.
Also auch zu jenen Momenten, in denen nicht alles durch Figurenpsychologie erklärt werden kann. Sie haben überhaupt keine Filme ausgewählt, in denen ein Held seine Hindernisse überwinden muss. Wieso nicht?
Die sogenannte Figurenpsychologie ermöglicht es, dass Menschen diagnostizierbar werden und dadurch leichter einzuordnen sind. Sie werden damit natürlich auch verort- und kapitalisierbar, auch ausserhalb des Kinos. Man kann dann mit ihnen arbeiten. Figurenpsychologie ist unbedingt auf Konflikte, auf Hindernisse angewiesen, die sich den Figuren in den Weg stellen. Es gibt einen schönen Essay von Ursula K. Le Guin dazu, «The Carrier Bag Theory of Fiction», in dem sie schreibt, dass Geschichten möglicherweise ohne «strugglende» Helden, ohne Kampf, ohne «Konflikt» auskommen können. Und wir unsere Erzählungen, Filme und vielleicht auch unser Leben mit ganz anderen Umgängen, Tricks und Zuwendungen organisieren können.
Wir müssen unbedingt noch über Meet Joe Black sprechen, die einzige grössere Hollywoodproduktion, die Sie ausgewählt haben. Wieso ausgerechnet dieses Drama, in dem Brad Pitt den Tod spielt?
Ich muss immer wieder an den Satz aus dem Interviewbuch von Hitchcock und Truffaut denken: Es ist besser, beim Klischee anzufangen, als beim Klischee aufzuhören. Meet Joe Black arbeitet mit zahlreichen Normen und Klischees und Reproduktionen von bestehenden Strukturen, und trotzdem entführt der Film uns aus all dem und landet in einem völlig seltsamen Gebiet. Da Martin Brest Regie sowie Produktion gemacht hat, wurde der Film auch für eine amerikanische Produktion dieses Ausmasses ungewöhnlich lang, fast drei Stunden. Die Dialoge zwischen Claire Forlani und Brad Pitt sind fast schon experimentell langsam geschnitten. Das ist nicht nur lustig, sondern es ist auch einfach ein sehr schöner und bewegender Film.
Der Aufstand gegen die Zustände ist etwas, was Sie immer wieder thematisieren, zuletzt mit Ihrem Spielfilm Unrueh, der von einer anarchistischen Bewegung handelt. Kann das Kino überhaupt den Umsturz zeigen?
Das ist eine schöne Frage. Was ist ein Umsturz genau? Im Film Chute von Nora Longatti kommt es meiner Meinung nach genauso zu einem Umsturz, denn die Menschen in Chute ändern ihr Verhalten, nachdem jemand in Biel auf der Strasse eingeschlafen ist. Ein anderes Beispiel ist Western von Valeska Grisebach, worin zwei Menschen in zwei unterschiedlichen Sprachen miteinander zu sprechen beginnen und sich trotzdem alles mitteilen können. Ich weiss noch, wie nach der Unrueh-Premiere in Bern eine ehemaligen Nationalrätin im Publikum sagte, sie habe die heftigen Emotionen der anarchistischen Bewegung vermisst. Ich fragte mich dann: Wer bestimmt eigentlich, was emotional ist? Wer hat das monopolisierte Anrecht auf die Bedeutung dieses Begriffs? Es ist doch sehr geheimnisvoll, wie unterschiedlich die Gefühle der Menschen funktionieren und sich zeigen. Gefühlsmässig aufgeladene Revolutionsfilme, wie sie ja schon endlos gemacht wurden, mögen vermarktbar sein. Aber gleichzeitig diskreditieren sie wirkliche politische Umstürze und Transformationen.
Was müsste man stattdessen zeigen?
Wenn ich das so genau wüsste! Vielleicht den Versuch selbst, mit Filmen unsere Wirklichkeiten auf die Leinwand zu bringen? Und darin unsere schöne Hilflosigkeit, weil das ja eigentlich gar nicht geht? Filme bedienen sich wie Gesellschaftsordnungen oder politische Systeme ja auch einfach nur bestehender Technologien, um unser Wissen, unsere Gesichter, unsere Sprache zu organisieren. Aber indem Filme dies tun, wird eben genau dies, das Erzeugen von Strukturen, irgendwie sichtbar. Das heisst auch, dass es immer nur ein Versuch bleibt und es keine absolut gültige Wirklichkeit gibt. Und damit kann das Kino zu einem Ort werden, wo wir beginnen können, Erzählungen neu zu organisieren.
Pascal Blum

Pascal Blum ist Kulturredaktor beim «Tagesanzeiger».