Douglas Sirk – Imitationen des Lebens
Nach seiner Emigration in die USA bewährte sich der deutsche Filmemacher Detlef Sierck (1897–1987) als Douglas Sirk in Hollywood in diversen Genres, vom Musical bis zum Thriller, vom Western bis zum Film noir. Stets jedoch galt sein Augenmerk dem Schicksal seiner Protagonist:innen, die im Konflikt mit gesellschaftlichen Regeln und Erwartungen stehen. Am geschicktesten verpackte Sirk seine Sozialkritik im Melodram.
Eine Schlüsselszene aus All that Heaven Allows (1955) bringt die bittere Ironie auf den Punkt, für die Douglas Sirks Melodramen berühmt sind. Die wohlhabende Witwe Cary hat sich gegen eine zweite Ehe mit dem Gärtner Ron entschieden, weil ihre Kinder den jüngeren Mann aus Standesdünkel ablehnen. An einem Weihnachtsmorgen wird Carys mütterliche Opferbereitschaft als Selbsttäuschung entlarvt. Die Tochter hat sich verlobt, der Sohn eine Stelle im Ausland angenommen. Beide werden nur noch selten ihre Mutter besuchen. Das Geschenk, das die Kinder als Ersatz für ihre Anwesenheit ausgewählt haben, verdeutlicht, wie sinnlos diese Entsagung war. Nachdem der Händler ein Fernsehgerät ins Haus getragen hat, erklärt er stolz, ein Knopfdruck genüge und man habe eine vielfältige Parade des Lebens in seinem Wohnzimmer. Von trauervollen Klängen auf der Tonspur begleitet, fährt die Kamera nach vorne. Carys Gesicht erscheint gespiegelt auf dem Bildschirm, eingerahmt von einer grossen rote Schleife links und einer Weihnachtskarte rechts. Ihr verzweifelter Blick ist erschütternd.
Konsequent zeichnen Sirks Filme einfühlsame Porträts von Menschen, die hin- und hergerissen sind zwischen ihrem persönlichen Begehren und den sie einschränkenden gesellschaftlichen Moralvorstellungen. Sie sehnen sich danach, aus Familienverhältnissen auszubrechen, die ihnen unerträglich geworden sind. Dabei rückt seine subtile Gesellschaftskritik ins Blickfeld, wie wenig Spielraum sie haben, um ihre Wünsche zu erfüllen. Zugleich unterläuft sein visueller Stil die überschwängliche Sentimentalität, von der diese Geschichten menschlichen Scheiterns zehren. Die grossen Leidenschaften, denen seine Figuren sich hingeben dürfen, und sein präzise kalkulierter Einsatz von Farben, Musik und Kamerafahrten halten sich die Waage.
Auch seine eigene Biografie ist von Ambiguität durchzogen. Der in Hamburg als Hans Detlef Sierck geborene Sohn eines dänischen Schulrektors studierte zuerst Jura, dann Philosophie und Kunstgeschichte, bevor er als Theaterregisseur an diversen Häusern in Deutschland arbeitete. Nach der Machtergreifung der Nazis wechselte er zum Kino und entdeckte in seiner Regiearbeit bald das Grundprinzip, das den Film vom Theater unterscheidet: «Motion is emotion», hat er viele Jahre später in seinem Interview mit Jon Halliday (veröffentlicht als: Sirk on Sirk, Viking 1972) erklärt. Die Blickwinkel der Kamera sind die Gedanken des Regisseurs, die Beleuchtung seine Philosophie.
Doppelgänger seiner selbst
Die Filme, die er 1937 mit Zarah Leander für die Ufa machte – Zu neuen Ufern und La Habanera –, brachten ihm grossen Erfolg. Er aber setzte alles daran, mit seiner zweiten Ehefrau, der jüdischen Schauspielerin Hilde Jary, aus Deutschland zu fliehen. Als er zwei Jahre später in Hollywood ankam, riet sein Agent ihm, seinen Namen zu ändern. Dort wurde er als Doppelgänger seiner selbst zum Meister eines auf uneindeutige und zugleich grosse Gefühlsregungen setzenden Kinos.
Unter dem Deckmantel jener Gattung, die man damals «women’s weepies» nannte, rückt er die Verunsicherung und den Zerfall der amerikanischen Gesellschaft der 1950er-Jahre in den Fokus. Zwar arbeitet er gerne mit einem Gleichgewicht zwischen stabilen Figuren und solchen, die in sich gespalten sind, doch alle sind aufgrund ihrer widersprüchlichen Gefühle in glücklose Beziehungen verstrickt. Verwirrt drehen sie sich im Kreis, kommen wieder dort an, wo sie angefangen haben. Die Häuser, die sie bewohnen, empfinden sie eher als Gefängnis denn als Schutzort. Oft stehen sie an Fenstern und lassen ihren Blick träumerisch in die Ferne schweifen. Verlassen können sie dieses Zuhause, wenn überhaupt, nur unter grossen Mühen. Sie verzweifeln an der Welt, doch dadurch wird ihnen auch eine innere Erkenntnis gewährt: Sie begreifen nicht nur, wie trostlos die Dinge um sie stehen, sie stellen sich auch vor, wie die Welt sein müsste, damit sie ihren Wünschen gerecht würde.
Die Erkenntnis, die den Zuschauerinnen und Zuschauern angeboten wird, ist ebenfalls nicht eindeutig. Wir sollen uns mit den um ihr Glück ringenden Figuren identifizieren, uns in ihr Hadern und Scheitern vertiefen. Dabei sind auch wir hin- und hergerissen zwischen den grossen Leidenschaften, die sie uns vorleben, und der ironischen Distanz, die Sirks stilisierte Filmsprache erzeugt. Sosehr uns die melodramatischen Verstrickungen der Figuren bewegen, so sehr werden wir angehalten, in dem Schauspiel auf der Leinwand eine Imitation des Lebens zu erkennen. Die Gesellschaftskritik, an der Sirk gelegen ist, setzt unsere eigenen Emotionen in Bewegung. Seine Filme weisen auf der Ebene von Zeichen und Denkbildern auf Ungerechtigkeiten hin, um beim Publikum ein soziales Bewusstsein zu wecken. Was wir mit diesem Einblick in den Zwiespalt seiner Figuren anfangen, liegt bei uns.
Unglückliche Happy Ends
In dem unglücklichen Happy End, auf das seine Melodramen jeweils hinauslaufen, wird Sirks Ambiguität auf die Spitze getrieben. In La Habanera steht die von Zarah Leander gespielte Heldin auf einem Dampfer und blickt mit gespaltenen Gefühlen zurück auf den Hafen von Puerto Rico. Sie ist sich bewusst, dass sie zwar marode, aber fraglos auch interessante Lebensumstände verlässt. In All that Heaven Allows blickt Cary mütterlich auf Ron, dessen Unfall ihr endlich erlaubt, alle Gewissensbisse abzustreifen. Jetzt kann sie dem Mann, den sie gesundpflegen will, versichern, sie sei endlich zu ihm heimgekehrt. In Written on the Wind sitzt Marylee, die Tochter eines texanischen Ölmagnaten, allein am Schreibtisch ihres Vaters. Sie hat sowohl den Bruder wie auch den Jugendfreund, um den sie hemmungslos buhlte, verloren. Nun bleibt ihr einzig das Familiengeschäft. Und schliesslich muss sich am Ende von Imitation of Life Sarah Jane, die hellhäutig genug ist, um sich als weisse Frau auszugeben, beim Begräbnis ihrer Mutter eingestehen: Dem Schicksal ihrer Herkunft kann sie nicht entkommen. In ihrer Verzweiflung sucht Sarah Jane Zuflucht in dem Auto, in dem die Schauspielerin, für die ihre Mutter gearbeitet hat, mit ihren Familienangehörigen sitzt. Die Kamera aber verharrt bei dem pompösen Leichenzug. In all diesen Schlussbildern spüren wir, wie wenig Hoffnung diese dramatische Auflösung bietet.
Ironischerweise war Imitation of Life einer von Sirks grössten Erfolgen, und Universal Studios versuchte den Regisseur mit allen Mitteln zu behalten. Er aber entschloss sich einmal mehr für einen radikalen Wechsel seiner Lebensumstände. Er kehrte nach Europa zurück, wo er keine Wurzeln mehr hatte. In Amerika fühlte er sich viel mehr zu Hause, doch der unbestreitbaren Verlockung, die Hollywood ihm weiterhin bot, wollte er sich entziehen. In seinem Gespräch mit Jon Halliday bringt er die bittere Ironie seines Lebens auf den Punkt: «So bin ich in der Schweiz geblieben, wo ich auch nicht zu Hause bin, und manchmal, wenn ich über mich nachdenke, kommt es mir so vor, als wäre ich eine dieser verdammten, gespaltenen Figuren aus meinen eigenen Filmen.»
Elisabeth Bronfen
Elisabeth Bronfen ist Kulturwissenschaftlerin an der UZH und Autorin.
Zusatzinformationen:
Das Filmpodium dankt dem Locarno Film Festival und Bernard Eisenschitz und Roberto Turigliatto, den Kuratoren der Retrospektive Douglas Sirk.