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Georgiens Cineastinnen

Der Filmpodium-Programmpass (4.10.–15.11.21) ist auch Ihr Georgien-Filmpass! Erhältlich für CHF 60.– an der Kinokasse.

1908 gilt offiziell als das Geburtsjahr des Kinos in Georgien, das in der Sowjetzeit im Bereich Film eine der produktivsten Teilrepubliken war. In jüngster Zeit erlebt das georgische Kino einen erstaunlichen Aufschwung, der auch international sehr beachtet wird. Regisseurinnen haben das georgische Filmschaffen seit jeher geprägt. Im Rahmen des Kulturfestivals «Brücke Zürich−Tbilissi» widmet das Filmpodium den Cineastinnen Georgiens eine kleine Hommage und freut sich, dass Vertreterinnen verschiedener Generationen ihre Filme persönlich vorstellen werden.
Wie auf der ganzen Welt ist auch in Georgien die Zahl der Filmregisseurinnen deutlich geringer als die der männlichen Filmschaffenden, doch sie bilden einen wichtigen Teil der georgischen Kinematografie. Die erste georgische Regisseurin war Nutsa (Nino) Gogoberidse (1902−1966), die 1934 in der Sowjetunion ihren ersten Spielfilm Ujmuri (Desperate Valley, auch als Ill-Tempered bekannt) drehte. Wie einige andere ihrer Filme konnte auch Ujmuri erst 82 Jahre später wieder in ihrer Heimat gezeigt werden, denn Nutsa Gogoberidse war Repressionen ausgesetzt und wurde 1937 nach Sibirien in die Gulag-Lager verbannt. Die Unterdrückungsmassnahmen hatten einen langen Unterbruch der Filmproduktion zur Folge. Selbst männliche Regisseure hatten Probleme, Filme zu drehen; nicht jeder war bereit, sich mit seinen Werken in den Dienst der Sowjet-Propaganda zu stellen. Erst in der sogenannten «Tauwetterphase» unter Nikita Chruschtschow stieg auch die Zahl der Regisseurinnen allmählich wieder an.

Die mittleren Generationen
Eine herausragende Vertreterin der jüngeren Generation von Filmschaffenden ist die Regisseurin Lana Gogoberidse, die Tochter von Nutsa Gogoberidse. Hauptthema ihrer Filme ist das Schicksal der Frauen, ihre Rolle im gesellschaftlichen Leben und ihr Verhalten in extremen Situationen. Lana Gogoberidse widmete den Film Walzer auf der Petschora (Walsi petschorase) (1992) den Tausenden von unterdrückten Frauen in der Sowjetunion, dem Exil ihrer Mutter und dem harten Aufwachsen auf sich gestellter Kinder. Trotz dieser schweren Schicksale strahlt der in einem «Lager der Frauen der Volksfeinde» in Sibirien spielende Film Hoffnung und Menschlichkeit aus. Zur gleichen Generation gehören Leila Gordeladse, Nana Mchedlidse und in den 70er-Jahren Liana Eliava.
Anfang der 80er-Jahre tauchte mit Nana Janelidse, Nana Djordjadse und Keti Dolidse, die noch immer zur Avantgarde des georgischen Kinos zählen, eine neue Generation von georgischen Filmregisseurinnen auf. Sie zeichnen sich aus durch einen individuellen Stil, neue Themen, eine klare gesellschaftliche Haltung und originelles künstlerisches Denken. Schon mit ihren ersten Arbeiten, die deutlich die Folgen des Totalitarismus aufzeigten, erregte Nana Djordjadse grosse Aufmerksamkeit. Auch in ihren folgenden Werken hat sie «verbotene» Themen behandelt und Geschichten erzählt von Figuren, die in sowjetischen Filmen nie erwähnt wurden. So kombinierte sie zum Beispiel politische Ereignisse aus der Sowjetisierung Georgiens und romantische Geschichten wie in Robinsonade oder: Mein englischer Grossvater, der 1987 in Cannes mit der Caméra d’Or ausgezeichnet wurde.

Aufschwung zu Beginn des Jahrtausends
1991 änderte sich das sozio-politische Leben Georgiens radikal und eine «neue Ordnung» wurde etabliert. Das Land erlangte die 200 Jahre zuvor verlorene Unabhängigkeit zurück; gleichzeitig ging es vom sozialistischen System über zu einer völlig neuen, ungewohnten Gesellschaftsform. Um 2005 beginnt das georgische Filmschaffen, die «postsowjetische Krise» zu überwinden, indem es nach neuen Wegen und Formen sucht und sein Selbstbewusstsein zurückerlangt. Eine neue Generation von Filmschaffenden wächst heran, und diejenigen, die in den 1990er-Jahren aufgehört haben, Filme zu drehen und das Land verlassen haben, kehren in die Heimat zurück. Entscheidend zu dieser Entwicklung beigetragen hat die finanzielle Unterstützung durch den Staat.
Heute sind in Georgien Regisseurinnen viel zahlreicher. An dieser Stelle seien stellvertretend nur einige wenige mit ihren Filmen vorgestellt. Die Protagonistin von Salomé Alexis erstem abendfüllenden Film Line of Credit (2014) ist eine attraktive Frau mittleren Alters, die (erfolglos) versucht, einen Bankkredit zurückzuzahlen. Meisterhaft zeichnet die Regisseurin das individuelle Porträt einer Frau und gleichzeitig das der georgischen Gesellschaft. Ein Meilenstein im neueren georgischen Kino ist Die langen hellen Tage (In Bloom) (2014) von Nana Ekvtimischwili und Simon Gross. Die Hauptfiguren des in den frühen 1990er-Jahren angesiedelten Films sind Teenager, die sich im Leben – in zum Teil extremen Situationen – zurechtfinden und Entscheidungen treffen müssen. Rusudan Glurjidses Erstling House of Others schildert die Zeit nach dem Krieg in Abchasien und erzählt von Menschen, denen das Kriegsende keinen Frieden gebracht hat. Die abendfüllenden Filme der drei Debütantinnen Mariam Chatschwani, Ana Urushadse und Dea Kulumbegaschwili, Dede, Scary Mother und Beginning haben nicht nur national, sondern auch international Beachtung gefunden. In Dede erzählt Mariam Chatschwani vom Schicksal und vom Widerstand einer jungen Frau in der von Traditionen geprägten Gesellschaft in der bergigen Region Swanetien. Dea Kulumbegaschwili sucht in Beginning nach einer neuen künstlerischen Form, um häusliche Gewalt und religiöse Intoleranz darzustellen. Eine fast unwirkliche Atmosphäre schafft die junge Ana Urushadse im Psychodrama Scary Mother. Ihr Film ist einzigartig im georgischen Kino und zeugt von einer individuellen Vision und der klaren Handschrift der Autorin. Die Filme georgischer Regisseurinnen drehen sich aber nicht nur um weibliche Themen. Hauptfigur in Horizont etwa ist ein Mann in Trennung, dessen Einsamkeit und soziale Ausgrenzung Tinatin Kajrischwili eindringlich schildert.

Die Grande Dame des georgischen Films
Die meisten dieser Filme sind vielversprechende Debütwerke. Aber es gibt einen unter ihnen, der meiner Meinung nach einzigartig ist und dessen Autorin eine besondere Stellung einnimmt. Voll jugendlicher Energie hat Lana Gogoberidse im Alter von 91 Jahren den Film The Golden Thread (Der goldene Faden) gedreht, in dem sie neue Themen aufgreift und anders an diese herangeht. Der Film handelt von einer älteren Frau, die in ihrer eigenen Welt gefangen ist, vieles erlebt und vieles verloren hat. Sie lebt in ihren Erinnerungen und ist damit eine Metapher nicht nur für die Generation der Regisseurin, sondern auch für die vergangenen Epochen, ja das ganze Land.
Es gab immer wieder Filme, in denen Filmschaffende versucht haben, mit der Sicht des heutigen Menschen auf die Vergangenheit zu blicken und diese samt ihren Beweggründen zu verstehen, zu bewerten und die Türen zu öffnen, die früher geschlossen waren, weil niemand die Kraft hatte, sie zu öffnen. Und egal, was wir sagen und wie sehr wir argumentieren, dass es keinen Unterschied zwischen «Frauen»- und «Männer»-Kino gibt, es bleibt eine Tatsache, dass Frauen die Welt anders sehen, wahrnehmen, fühlen und Ereignisse anders bewerten als Männer und ihre eigenen individuellen Regeln, Erfahrungen und Fähigkeiten haben, um Probleme zu zeigen und zu lösen.
Lela Ochiauri

Lela Ochiauri ist Kunsthistorikerin und Professorin an der staatlichen georgischen Schota-Rustaweli-Universität für Theater und Film in Tbilissi.


«Brücke: Zürich–Tbilissi»
Das interdisziplinäre georgische Kulturfestival «Brücke: Zürich–Tbilissi» (1.–10.10.21) umfasst Architektur, Literatur, Film, Musik und Kunst; Partner sind neben dem Filmpodium das Literaturhaus Zürich, das Cabaret Voltaire, das ZAZ Zentrum Architektur Zürich und der Kunstraum Walcheturm. Details: www.zuerich-tbilissi.ch
In Kooperation mit der Georgischen Kulturplattform.
Impressionen der Bautätigkeit in Tbilissi, zusammengestellt vom Schweizer Filmemacher und Künstler Thomas Haemmerli, finden Sie hier.