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Film noir international

Die Geschichte des Film noir ist ganz wie die Filme selbst: verführerisch, labyrinthisch, hoffnungslos und, wie es Raymond Chandler einmal sagte, «dark with something more than night». Ko-Kurator Benedikt Eppenberger zeichnet die Entwicklung dieses Genres nach, das weltweit immer neue Cineastinnen und Cineasten inspiriert. Ein Blick in die Angebotslisten von Netflix und Co. zeigt: Der Film noir ist überall und dabei zum nostalgischen Klischee, zur Industrienorm geworden. Dass das Genre aus sich heraus neue Blüten treibt, bleibt die Ausnahme. In der Regel geistert der Film noir als unerlöstes Gespenst durch die digitale Film- und Serienwelt; als flackernde Erinnerung an ein Kino, das, wie Raymond Chandler in «The Simple Art of Murder» schrieb, «den Mord jenem Schlag von Menschen zurückgab, die Grund haben zu morden, und nicht nur da sind, um eine Leiche zu liefern».
Die nach Romanen von Dashiell Hammett und James M. Cain gedrehten Filme The Maltese Falcon (1941) und Double Indemnity (1944; Drehbuch: Raymond Chandler) gelten als Gründungswerke des klassischen Film noir. Ihre Schöpfer John Huston und Billy Wilder kannten diese Genre-Bezeichnung allerdings nicht. Den Begriff Film noir prägte erst 1946 der französische Kritiker Nino Frank, dem aufgefallen war, wie gewisse Studio-Regisseure die (relative) Freiheit, die sie bei der Herstellung von B-Pictures genossen, dazu nützten, die dunkle Seite des American Dream hervorzukehren.
Im Hollywood der 1940er-Jahre hatte sich eine Untergattung des Kriminalfilms etabliert, in der sich die Fälle nicht mehr lösen liessen. Hier irrten von Depressionsängsten, Kriegserfahrungen und Femmes fatales gebeutelte Antihelden durch reale und seelische Trümmerlandschaften. Mittels neuer Filmtechniken übersetzten mehrheitlich vom deutschen expressionistischen Kino geprägte Film-Emigranten diesen Pessimismus in ein diffuses Licht- und Schattenspiel, das zum klassischen Noir-Merkmal wurde. Brachen bereits die frühen Noirs mit linearer Erzählform und eindimensionaler Heldenzeichnung, gingen gewisse B-Picture-Regisseure nach dem Krieg inhaltlich und formal noch radikaler zur Sache, was deren Filme zu Vorboten der aufdämmernden Postmoderne machte. Als 1958 Touch of Evil erschien, realisierte Orson Welles zwar nicht, dass er damit den wohl letzten klassischen Film noir gedreht hatte; er wusste sich aber in einer Tradition, in der das populäre Kino «erwachsen» geworden war.


Vom klassischen Film noir zum Neo-Noir
Wie subversiv Wilder, Welles und Co. mit ihren Noirs die Glücksideologie der Traumfabrik unterwandert hatten, entdeckten in den 1950er-Jahren junge Filmkritiker wie Jean-Luc Godard und François Truffaut beim Studium des klassischen Hollywoodkinos. Die existenzialistische Prägung dieser Filme verband die Noir-Regisseure mit ihren Verehrern, die in der Kunst, wie diese Hollywood-Haudegen die Revolte ins Kommerzkino geschmuggelt hatten, ein Vorbild für ihre zukünftige «politique des auteurs» sahen.
Die Beschäftigung mit dem Film noir führte zu weiteren Entdeckungen, unter anderem Jacques Becker, Henri-Georges Clouzot oder Jean-Pierre Melville, die abseits von Hollywood bereits eigene pechschwarze – im Fall von Melville (Le samouraï) fast schon abstrakte – Noirs drehten. Diese Einzelgänger, zusammen mit den Matadoren der Nouvelle Vague, sollten die Geburt des Neo-Noir aus dem Geiste des klassischen Film noir entscheidend voranbringen.
Es waren von dieser neuen Welle erfasste europäische Regisseure, die in den 1960er-Jahren den Film noir in die USA (zurück)brachten und eine neue Generation von US-Filmemachern auf die Sprengkraft des eigenen Filmerbes stiessen. So vermochte der Brite John Boorman in seinem ersten US-Film Point Blank 1967 mittels vertrackt non-linearer Erzählweise und psychedelischer Farbdramaturgie eine der Schwarzweissmagie des klassischen Film noir vergleichbar unheimliche Stimmung zu erzeugen. Als Ende der 1960er-Jahre junge Filmschulabgänger, TV-Recken und Grindhouse-Studio-Desperados die Traumfabrik enterten, stellten sie sich als Auteurs selbstbewusst in eine Noir-Kontinuität und bescherten New Hollywood mit Neo-Noirs erste Höhepunkte. Robert Altmans The Long Goodbye (1973), Francis Ford Coppolas The Conversation (1974) oder Martin Scorseses Taxi Driver (1976) nahmen in ihrer labyrinthischen Struktur die zeitgenössisch paranoide Grundstimmung in den USA auf, spielten aber alle in einer Noir-Welt, in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft zusammenzufallen schienen.
Zur selben Zeit gingen der Pole Roman Polanski und sein Drehbuchautor Robert Towne mit Chinatown (1973) andere Wege. Dass die beiden die kunstvoll verschachtelte Filmhandlung in der Entstehungszeit der ersten klassischen Films noirs ansiedelten, dabei gleichzeitig die Art-Déco-Szenerie in das sehnsuchtsvoll glänzende Licht Kaliforniens tauchten, sorgte einerseits für einen bemerkenswerten Verfremdungseffekt, andererseits für eine Retro-Ästhetik, die bis heute nachwirkt.
Es war dann Lawrence Kasdan, der 1981 mit seinem fiesen Neo-Noir Body Heat und dem von ihm geschriebenen Raiders of the Lost Ark Hollywood den Weg in die Blockbuster-Zukunft wies. Er demonstrierte, wie mit aktualisierten Versatzstücken aus der B-Picture-Vergangenheit ein neues Produktions- und Verwertungsmodell aufgezogen werden konnte. Gleichzeitig führte der Brite Ridley Scott mit seinem Dystopiekrimi Blade Runner (1982) vor, dass sich der Noir in jedes Genre, in jede Zeit und in jeden Raum übertragen liess.

Neo-Noir in Popkultur und Postmoderne
Die Folge war, dass Noir zum Popkultur-Fetisch wurde. Aus dem stetigen Warenstrom ragten aber immer wieder einzelne Werke von Künstlerinnen und Künstlern heraus. So träumte sich David Lynch 1997 mit Lost Highway auf surreale Meta-Noir-Ebenen, während Michael Mann in Thief (1981) oder Heat (1995) den Noir-Einzelgänger ins Zentrum stellte, der in einer indifferenten Welt um den Preis seines Untergangs an einem sinnlos gewordenen Wertekodex festhält.
Zieht im klassischen Film noir der Antiheld sein Restpathos für gewöhnlich daraus, sein Scheitern zynisch zu kommentieren, haben die Brüder Joel und Ethan Coen diesen coolen Loser seit Blood Simple (1984) immer wieder zum Hanswurst gemacht. Mit Reservoir Dogs (1992) und Pulp Fiction (1994) betrat der besessene Videothekar Quentin Tarantino die Neo-Noir-Bühne. Dabei interessierte ihn weniger das Existenzialphilosophische als vielmehr, wie er, auf den Schultern von unterschätzten Genre-Meistern stehend, mit den noch glimmenden Zeichen, Worten und Sounds das Feuer neu entfachen könnte.
In den letzten Jahrzehnten hat sich der Noir vom Ruch, ein vornehmlich von weissen Männern dominiertes Genre zu sein, gelöst und Filmschaffende aus den unterschiedlichsten Kontexten zu neuen Interpretationen inspiriert. Aus China, Iran, Japan oder Südkorea kommen inzwischen die besten Noirs, und wo Carl Franklin oder Kathryn Bigelow in den 1990ern mit ihren dunklen Meisterwerken allein standen, drehen People of Colour und Frauen heute die Neo-Noirs der Zukunft.
Woher diese immerwährende Liebe? Vielleicht kann man sich für den Zerfall, für das Unbehagen in der Kultur am besten im dunklen Kinosaal erwärmen. Fast scheint es, als sei das Kino für den Film noir erfunden worden, diesen – wie es Robert Towne so schön sagte – «Tunnel am Ende des Lichts».
Benedikt Eppenberger

Benedikt Eppenberger ist Historiker und SRF-Filmredaktor.

Im Sommerprogramm wird der klassische Film noir in der filmhistorischen Reihe «The Story of Film» ein Thema sein.