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Kira Muratowa

Gleich ihre ersten beiden Spielfilme bringen der russisch-ukrainischen Regisseurin Kira Muratowa (1934–2018) ein achtjähriges Berufsverbot ein. Das prägt ihr Verhältnis zur Obrigkeit nachhaltig. Diese existenzielle Erfahrung spiegelt sich im heterogenen und zunehmend kompromisslosen Stil ihrer Filme: Während sie für die einen Kultstatus haben, ist für andere der dissonante Nonkonformismus der späten Filme schlicht ungeniessbar. Sechzehn Spielfilme umfasst das zwischen 1967 und 2012 entstandene Werk; das Filmpodium zeigt fünf davon. Kira Muratowa gehört mit Larissa Schepitko, Andrej Tarkowskij, Alexej German und Alexander Sokurow zu den bedeutendsten russischen FilmautorInnen der Nach-Tauwetter-Epoche. Sie alle haben ihre Regieausbildung zur Zeit des kulturpolitischen Aufschwungs nach Stalins Tod an der Moskauer Filmakademie VIGK absolviert. Nach Abschluss ihres Studiums zieht Kira Muratowa 1959 mit ihrem Kommilitonen und Ehemann Alexander Muratow nach Odessa, wo die beiden gemeinsam ihren Debütfilm realisieren. Die Ehe hält nicht lang; Alexander Muratow zieht nach Kiew, während Kira Muratowa mit ihrer Tochter in Odessa bleibt, wo sie im dortigen Studio ab den 1960er-Jahren unter Vertrag steht. In Odessa werden mit einer Ausnahme alle ihre Spielfilme entstehen, auch der letzte, Ewige Rückkehr, den sie 2012, sechs Jahre vor ihrem Tod, realisiert.
Geboren ist die Regisseurin als Kira Georgiewna Korotkowa 1934 in der rumänischen Stadt Soroca. Ihre Eltern sind in der damals verbotenen kommunistischen Partei aktiv. Ihr Vater fällt im 2. Weltkrieg. Die Mutter erhält nach dem Krieg eine Stelle im Kulturministerium in Bukarest, wo Muratowa die russische Schule besucht. Seit ihrer Jugend identifiziert sich Muratowa mit der russischen Sprache und Kultur und realisiert ihre Filme auch nach der 1991 erlangten Unabhängigkeit der Ukraine, zu der Odessa gehört, auf Russisch.

Vom provinziellen Melodrama ...
1966 realisiert Larissa Schepitko ihren ersten Spielfilm, Flügel (1966), über die innere Verfassung einer ehemaligen Kampfpilotin, ein präzises, poetisches Porträt aus frauenspezifischer Sicht, eine Novität im sowjetischen Kino. Ein Jahr später geht Kira Muratowa in ihrem Spielfilmdebüt, Kurze Begegnungen (1967), formal und inhaltlich noch radikaler ans Werk. Verspielt und humorvoll inszeniert sie in ihrem «provinziellen Melodrama», wie sie ihre beiden frühen Filme bezeichnet, die komplexe Realität ihrer Protagonistin, Walentina Iwanowna. Diese ist als höhere Beamtin zuständig für die Wasserversorgung einer Kleinstadt und verliebt sich in einen Mann, der sich nicht binden will. Eine Rolle, die Kira Muratowa gleich selbst spielt. Anhand eines Geflechts unterschiedlichster Zeitebenen, Erinnerungen und sinnlicher Bezüge schafft Muratowa eine dichte Atmosphäre, die uns die Sehnsüchte und gleichzeitig den Alltag ihrer Figuren nahebringt. Damit verschiebt sie die Aufmerksamkeit vom grossen Gesellschaftszusammenhang des sozialen Realismus auf die kleine alltägliche Realität. Die Zensur kritisiert Kurze Begegnungen als «kleinbürgerlich» und «unsozialistisch» und verbannt einen der schönsten Filme Muratowas ins Regal, aus dem er erst 1987 zur Zeit der Perestroika befreit wird.
Dasselbe Schicksal ereilt ihren zweiten Spielfilm, Langer Abschied (1971), in dem die existenziellen Nöte einer alleinerziehenden Mutter im Mittelpunkt stehen und der in seiner radikalen und sinnlichen Machart den Kurzen Begegnungen in nichts nachsteht. Die Hauptrolle übernimmt die Schauspielerin Sinaida Scharko, die eine überwältigende Jewgenja spielt. Der Zensur missfällt das Thema Einsamkeit und sie qualifiziert das Melodrama als zu «damenhaft» ab. Auch Langer Abschied bleibt sechzehn Jahre lang unter Verschluss. Doch immerhin wird er regelmässig inoffiziell an der Moskauer Filmhochschule VGIK den StudentInnen als ein Meisterwerk des Kinos vorgeführt, wie die amerikanische Filmwissenschafterin Jane Taubman in ihrer 2005 publizierten Studie zum frühen filmischen Werk Muratowas betont. Acht Jahre lang muss Muratowa im Odessaer Filmmuseum als Aufsicht arbeiten, bevor man ihr wieder ein Drehbuch anvertraut.
Erst gegen Ende der 1970er-Jahre darf sie wieder Regie führen, wird aber weiterhin von den Zensurbehörden bedrängt, weil sie die vorgegebenen Drehbücher mehrmals umschreibt. Auch Unter grauen Steinen (1983), ein fast linear erzählter Film, der auf einer literarischen Vorlage basiert, wird nach seiner Fertigstellung zensuriert, worauf Muratowa ihren Namen aus dem Abspann entfernt und mit einem fiktiven «Ivan Sidorov» ersetzt. Dennoch ist ihre Handschrift gut erkennbar, und in der restaurierten Version taucht ihr Name wieder auf.

... zur brachialen Satire
Im 1989 – also zur Zeit der Perestroika – realisierten Das asthenische Syndrom wird die in ihren frühen Filmen fast liebevoll wirkende Kritik am System zur brachialen Satire. Da machen sich Frauen hämisch über den Staatsliteraten der UdSSR, Leo Tolstoi, lustig, es folgt eine Szene von Tierquälerei – ein wiederkehrendes Motiv. Als eine «lustvolle Pervertierung der filmischen Konventionen des sozialen Realismus» bezeichnet der russische Filmhistoriker Andrej Plakhow dieses apokalyptisch wirkende Werk. Das Publikum wird einerseits desorientiert, andererseits über körperliche, sinnliche oder affektive Momente einbezogen. Das asthenische Syndrom wird als einziger Film der Perestroika-Zeit verboten und, erst nachdem eine heimlich nach Berlin geschmuggelte Kopie an der Berlinale 1990 gezeigt und mit dem Silbernen Bären ausgezeichnet wird, einem breiteren Publikum zugänglich gemacht.
Nach 1991 kultiviert Muratowa in ihren Filmen, meist russisch-ukrainische Produktionen, zunehmend ihren Hang zum Grotesken und zu einem theatralischen Stil mit üppigen Dekors, überlangen Monologen und gebetsmühlenartigen Wiederholungen. In Tschechow-Motive 2002 schaffen die vielen parodistischen und ironischen Momente Distanz zum Filmgeschehen. Etwa die hufeisenförmige Anordnung der Familie zum Gebet: Sämtliche Familienmitglieder tragen Brillen und die Mutter wiederholt vor dem Patriarchen neunmal in unterwürfigem Ton, dass man ihrem Sohn neue Kleider kaufen müsse. Zwar bezieht sich Muratowa auch in Tschechow-Motive auf literarische Vorlagen, aber nur um sie zu verfremden. Mit ihrem äusserst heterogenen, exzentrischen Stil wird sie zu einer Art Enfant terrible des postsowjetischen Kinos.
Im Westen wird Kira Muratowa erst 1987 entdeckt, als die beiden inzwischen freigegebenen frühen Filme, Kurze Begegnungen und Langer Abschied, am Filmfestival in Pesaro gezeigt werden. Im gleichen Jahr wird die inzwischen 53-jährige Regisseurin nach Locarno in die Jury berufen. Sieben Jahre später erhält sie dort den Ehrenleoparden. Im letzten Herbst – ein Jahr nach ihrem Tod – hat die Cinémathèque française in Paris sie mit einer umfassenden Retrospektive geehrt.
Catherine Silberschmidt

Catherine Silberschmidt ist Filmkritikerin und -journalistin und schreibt u. a. für die WOZ und das «Filmbulletin». Ihre Interessensgebiete sind neben dem Filmschaffen von Frauen auch das Kino in der afrikanischen Welt und in ehemaligen Kolonien.