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Stummfilmfestival 2020

Martin Girod, ehemaliger Koleiter des Filmpodiums, hat unser jährliches Stummfilmfestival erschaffen und bisher hauptsächlich kuratiert. 2020 übernimmt er zum letzten Mal die Federführung, und zwar mit Verve. Live begleitet werden diese Meilensteine wie immer von einer erlesenen Garde von Musikerinnen und Musikern, die jede Filmvorführung zum einmaligen Event machen. «Stummfilm» – das Wort lässt die meisten Leute wohl zuerst an Slapstick-Komödien denken, andere vielleicht an einen russischen Revolutionsfilm. Und dabei bleibt es oft. Seit 2003 versucht das Stummfilmfestival im Filmpodium alljährlich, dieses Image zu erweitern. Ja, Stummfilm, das sind Chaplin, Keaton und Co., das sind der Panzerkreuzer Potemkin und Die Mutter, aber eben noch sehr viel mehr.
So reicht das diesjährige Programm mit Filmen aus den Jahren 1913 bis 1933 vom kurzen Thriller (Suspense) und populären Western (The Covered Wagon) bis zum sozial-engagierten Werk (The Blot) und zum Avantgardefilm (Borderline). Es bringt neben Titeln aus Westeuropa und den USA auch Beispiele aus Skandinavien, Osteuropa und Japan. Die Festivalfilme erzählen – unerlässlich! – Liebesgeschichten, Kriminalstorys und Fantastisches, thematisieren aber auch Rauschgiftsucht, Antisemitismus und Rassimus.
Neben bekannten Regiegrössen wie Lubitsch, Ozu, Sjöström, Dowshenko, neben legendären Titeln wie Der Golem und The Cameraman überrascht das Festival mit Wiederentdeckungen und Raritäten – etwa dem sowjetischen Film Kain und Artjom. Zudem gelingt den tonlosen Filmen immer wieder das Kunststück, Literatur in reine Bildsprache zu übersetzen: diesmal mit Werken von Zola, Gorki, Lagerlöf und Stevenson.
Das Filmschaffen ohne integrierten Ton – üblicherweise, wenn auch etwas irreführend, «Stummfilm» genannt – reicht in der Bildgestaltung wie im Schauspielerischen vom Naturalismus bis zum Expressionismus, stilistisch und thematisch war es ebenso vielfältig wie der Tonfilm. Man könnte sogar sagen: noch facettenreicher, weil technisch und materiell weniger aufwendig und damit weniger standardisiert, offener für Innovationen.
Die Filmpodium-Reihe «Das erste Jahrhundert des Films», 2011 mit Filmen von 1911 gestartet, kommt 2020 zum Abschluss. Für das Stummfilmfestival setzt sie noch einmal den Schwerpunkt mit Werken der Jahre 1920 und 1930. Diese beiden Jahrgänge spannen den Bogen vom vollen Erblühen bis zum Ende des Stummfilmzeitalters. 1920 waren die filmischen Ausdrucksmittel – 25 Jahre nach der Patentierung des Cinématographe der Lumières – voll entwickelt, inhaltlich prägte die Erinnerung an den Ersten Weltkrieg das Schaffen. 1930 gehörte der Stummfilm für die USA weitgehend der Vergangenheit an, in Westeuropa neigte sich seine Zeit klar dem Ende zu, während Länder wie Japan und China, aber auch die UdSSR noch einige der ergiebigsten Stummfilmjahre vor sich hatten.
Vom 9. Januar bis zum 5. Februar werden die Filme des 17. Zürcher Stummfilmfestivals während vier Wochen wieder dazu beitragen, den Begriff «Stummfilm» mit reichem, vielfältigem, relevantem und poetischem Leben zu füllen. Es lädt ein zum vergnüglichen Erlebnis, sich dem Sog der Bilder und der Begleitmusiken hinzugeben und zu staunen, wie sich Geschichten ganz ohne gesprochene Worte erzählen lassen.

Weitere wichtige Filme von 1920:
Algol Hans Werkmeister, Deutschland
Anna Boleyn Ernst Lubitsch, Deutschland
Das Cabinet des Dr. Caligari Robert Wiene, Deutschland
Das Kloster von Sendomir Victor Sjöström, Schweden
Erotikon Mauritz Stiller, Schweden
Il sacco di Roma Enrico Guazzoni, Italien
L'Homme du large Marcel L'Herbier, Frankreich
La Fête espagnole Germaine Dulac, Frankreich
One Week Buster Keaton, USA
The Admirable Crichton Cecil B. DeMille, USA
The Kid Charles Chaplin, USA
Von morgens bis mitternachts Karlheinz Martin, Deutschland

Weitere wichtige Stummfilme von 1930:
A propos de Nice Jean Vigo, Frankreich
City Girl F. W. Murnau, USA (auch Tonfassung)
Das Fest des heiligen Jürgen Jakow Protasanow, UdSSR
Lohnbuchhalter Kremke Marie Harder, Deutschland
Menschen am Sonntag Robert Siodmak, Deutschland
So ist das Leben Carl Junghans, Tschechoslowakei/Deutschland
The Silent Enemy H. P. Carver, USA (teilweise mit Ton)
Tonfilme des Jahrgangs 1930 folgen im Februar/März-Programm.
Martin Girod