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François Truffaut

Man darf von François Truffaut sagen, was er als junger Filmkritiker über George Cukor, einen Bruder im Geiste, schrieb: Von fünf seiner Filme ist einer ein Meisterwerk, drei sind sehr gut und der fünfte ist bestimmt interessant. Ebenso Mitbegründer der Nouvelle Vague wie Erbe von Jean Renoir und Jünger von Alfred Hitchcock, hat Truffaut ein Werk geschaffen, das vital und vielfältig ist und das oft von starken Frauenfiguren dominiert wird, denen die Männer zu Füssen liegen oder zum Opfer fallen. War es vor ungefähr zwanzig Jahren? Jener aussergewöhnliche Festivaltag in Cannes, als der Jahrmarkt der Eitelkeiten, das Hamsterrad der Glamourbeschwörer für einen magischen Moment innehielt. Um jenes Mannes zu gedenken, der den Unterschied zwischen Magie und Glamour, zwischen echtem und falschem Glanz des Kinos wie kaum ein anderer reflektiert und uns die Sinne dafür geschärft hatte. Aber nein, vor über dreissig Jahren war es, im Mai 1985, und es kommt wohl nicht von ungefähr, dass die Erinnerung François Truffaut älter machen will. Nur gerade 52 ist er geworden. Im Rückblick erscheint sein Lebenswerk so reich wie das eines Menschen, dem ein voller Lebenszyklus gegönnt war. Doch Fülle und Vollendung sind nicht das Gleiche. Truffauts Streben galt stets den erfüllten Lebensmomenten, nicht dem vollendeten Kunstwerk.
Jedenfalls war an diesem Trauertag die Crème de la Crème des französischen Kinos anwesend, seine Starproduzenten, seine Starautoren, natürlich die Stars der Leinwand selbst: Jeanne Moreau, Catherine Deneuve, Fanny Ardant, Jacqueline Bisset, Jean-Pierre Léaud, Gérard Depardieu, Charles Aznavour und zahlreiche andere oben auf der Bühne (schmerzlich abwesend Oskar Werner, der seinen Durchbruch Jules et Jim, 1962, und Fahrenheit 451, 1966, verdankte; er war zwei Tage nach seinem Freund Truffaut gestorben). Unten im Saal das Fussvolk, französisch und international, dem Truffaut, Autodidakt in all seinen Metiers, ohnehin stets besonders zugetan war. «La famille Truffaut», wie seine jüngste Muse, Claude Jade, es nannte, die ganze Branche, der der Verstorbene eine Dekade zuvor seinen vielleicht schönsten Film gewidmet hatte: La nuit américaine (1973), eine poetische Metapher für die Illusionen der Leinwand, ein filmisches Gedicht über die technischen Möglichkeiten des Kinos, den Tag in die Nacht zu verwandeln.

Vom Kritiker zum Hoffnungsträger
Alles kam zusammen an diesem Festival, das dem scharfzüngigen Filmkritiker einst die Akkreditierung verweigert hatte, ihn im Jahr darauf aber als neues Wunderkind der Nouvelle Vague – Grosser Regiepreis 1959 für Les quatre cents coups − empfangen musste, und das er zehn Jahre später im Zuge der Mai-Unruhen 1968 zusammen mit Godard und andern Rebellen gegen das «bourgeoise Kino» lahmlegen sollte. Kurz: Hier wurde nicht nur eines Toten gedacht, hier atmete Festival- und Filmgeschichte. Denn die «famille Truffaut», das war auch die fruchtbare, weitverzweigte Familie des französischen Kinos seit Mitte des Jahrhunderts, deren ästhetische Verästelungen bis ins New Hollywood und zu Steven Spielberg reichten. Truffaut, Schüler Rossellinis und Bewunderer des italienischen Neorealismo, war Mitbegründer der «politique des auteurs» und prägende Stimme in André Bazins Cahiers du cinéma, der geistigen Quelle des Autorenfilms und Bibel aller Cineasten und Cinephilen; er war Neu-Entdecker von Hollywoods verkannten «Autoren» und in dieser Funktion vor allem Exeget von Hitchcock, mit dem vielleicht populärsten theoretischen Text der Filmgeschichte überhaupt: «Le cinéma selon Hitchcock» (1966, dt. «Mr. Hitchcock, wie haben Sie das gemacht?»). Dafür befragte er den Meister des Suspense fünfzig Stunden lang und schrieb ihn dann in den Olymp der Filmgötter. Das schlug sich auch in seinen eigenen Filmen nieder, etwa in La mariée était en noir (1968) und La sirène du Mississippi (1969), aber auch noch in seinem letzten Film, Vivement dimanche! (1983): allesamt Hommagen nicht nur an Hitchcock, sondern verspielte, paradoxerweise geradezu heitere Variationen der literarischen und filmischen «Série noire», der er bereits mit seinem Frühwerk Tirez sur le pianiste (1960) gehuldigt hatte.
Doch obschon Truffaut, ein «cinéaste» nach der notorisch geschwätzigen französischen Lehre, als fleissiger Schulschwänzer seine Kindheit und Jugend im Kino verbracht hatte, war er kein Nerd, wie die Millennials solch obsessive Eskapisten heute nennen. Weder lebte er in einer realitätsblinden Parallelwelt, noch stagnierte er in der pubertären 68er-Pose des Revoluzzers, wie etwa Godard sie nie wirklich aufgeben konnte (Truffaut schimpfte ihn einen Schickimicki-Radikalen). Schüchtern und melancholisch, war er zum Autorengott in diesem theorielastigen – und bei allem intellektuellen Getue nicht wenig machistischen – Männeruniversum nicht gemacht.

Der Mann, der Kinder und Frauen liebte
Nein, aufrichtig und ohne Anstrengung schien Truffaut das Leben zu lieben, die menschliche Gesellschaft in all ihren Defiziten, ihre Literatur, die neben dem Kino schon früh seinen Geist und später viele seiner Filme beflügelte. Die Kinder liebte er sowieso, deren ungezähmten Blick auf die Welt er nie ganz verlor. Zu Les quatre cents coups oder L’argent de poche (1976) inspirierte ihn seine eigene verwahrloste Kindheit, im weiteren Sinn wohl ebenfalls zu L’enfant sauvage (1970): Für die gesellschaftspolitischen Fragen von Kindererziehung und Bildung, die er mit der historischen Geschichte eines Wolfsjungen stellte, engagierte er sich auch jenseits des Kinos.
Ein gewisse Kindlichkeit, im träumerisch-kreativen Sinn wie in einer gelegentlich kindischen Verweigerung zu Entwicklung und Reife, war seit Jules et Jim eine Grundschwingung in Truffauts Werk und zeichnet auch die autobiografisch gefärbten Antoine-Doinel-Filme aus. Jean-Pierre Léaud verkörperte diesen Puer aeternus über fünf Filme und zwei Jahrzehnte hinweg mit einem zunehmend beängstigenden persönlichen Stillstand, in welchem sich die Grenzen zwischen Figur und Darsteller völlig aufzulösen schienen. Für die Welt der Erwachsenen waren Léaud/Doinel nicht geschaffen, für das Domicile conjugal (1970) erst recht nicht.
Obschon: Am meisten liebte Truffaut, wie jede seiner Alter-Ego-Figuren, die Frauen. Die Küchenpsychologie würde darin wohl die Suche eines ungeliebten Kindes nach einer zärtlichen Mutter verorten. Im symbolisch betitelten L’homme qui aimait les femmes (1977) spiegelt Truffaut sich in der Figur eines Mannes, dessen einziger Lebenszweck aus einer Art Minnesang auf die Frauen besteht, fetischisiert in ihren Beinen. Gemäss simpleren #MeToo-Kriterien wäre diese erotische Passionsgeschichte bereits anrüchig, doch Truffauts Gesamtwerk ist eine mächtige Demonstration des programmatischen Zitates daraus: «Die Beine der Frauen sind die Zirkel, die den Erdball in allen Himmelsrichtungen vermessen und ihm sein Gleichgewicht und seine Harmonie verleihen.» Auch quotenmässig gibt es nichts zu rüffeln. Truffauts Hauptfiguren waren mehrheitlich Frauen, seine Protagonistinnen nicht nur dekoratives Beigemüse, und das in einer Zeit, in der der Sexismus nahtlos von Papas totgeschrie(b)enem Kino in jenes der patriarchalen Söhne überging: eine Vielfalt von weiblichen Charakteren, historischen, literarischen, zeitgenössischen, exzentrischen und realistischen, wie kaum ein anderer Regisseur seiner Epoche sie hervorgebracht hatte.
Kein Wunder, beherrschten an jenem Tag in Cannes die Frauen die Bühne, hielten inne auf ihren schönen, starken Beinen und weinten in aufrichtigem Schmerz um den Mann, der sie die Welt hatte vermessen lassen. Und für einen Moment wurde der Festivalpalast zu jener intimen «Chambre verte» aus Truffauts Spätwerk, wo seine Liebe zum Leben nur noch vom Gedenken an die Toten getragen wird.
Pia Horlacher