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Retrospektive Shi Hui

In Shanghai wurde Shi Hui (1915–1957) als «Kaiser der Bühne» gefeiert: Er spielte in über zwanzig Filmen, führte Regie in Film und Theater und engagierte sich in verschiedenen Funktionen in der Shanghaier Theater- und Filmwelt. Die Retrospektive im Filmpodium präsentiert Shi Hui sowohl als Regisseur wie als herausragenden Schauspieler und gibt gleichzeitig einen Einblick in das Shanghaier Filmschaffen der 1940er- und 1950er-Jahre. Shi Hui (Shi Yutao) wurde 1915 in Tianjin als viertes von fünf Kindern geboren. In seinem Leben spiegeln sich die Unruhen und Veränderungen, die Kriege und die politische Willkür, die damals die chinesische Gesellschaft prägten. Seine verarmte Familie übersiedelte 1916 nach Peking. Nach dem frühen Tod des Vaters arbeitete Shi Hui bereits als 15-Jähriger als Zugbegleiter im Nordosten Chinas, der nach 1931 unter japanischer Besatzung stand. Hier lernte er alle Facetten menschlichen Leids kennen: Brände, Raub, Vergewaltigung, Mord. 1932 fand er in einem Theater einen Job als Budenverkäufer. In seiner Freizeit vertiefte er sich in die Kunst der Peking-Oper, sah sich Theaterstücke und Filme an und lernte Englisch. Weil ihm dort täglich drei Mahlzeiten zugesichert wurden, wechselte er zu einer anderen Theatergruppe: Zu oft hatte er Hunger gelitten.

Der Lohn der Lernfähigkeit
Seine Karriere als Amateurschauspieler entwickelte sich rasant. Im Oktober 1941 kam Kinder der Welt heraus, in dem Shi Hui seine erste Filmrolle spielte. Regie führten die österreichischen Filmpioniere und Flüchtlinge Luise Fleck (1873–1950) und Jakob Fleck (1881–1953) gemeinsam mit dem chinesischen Regisseur Fei Mu (1906–1951). Im gleichen Jahr gründete Shi Hui die Theatergruppe Kugan (wörtlich: harte Arbeit) mit, die sich bis 1946 grösster Popularität erfreute. Shi Hui wurde als «Kaiser der Bühne» umjubelt. 1947 begann das Wen Hua Film Studio, einige der erfolgreichsten Theaterproduktionen zu verfilmen, so auch die Adaption von Maxim Gorkis Nachtasyl. Shi Hui spielte in fast allen Wen-Hua-Filmen mit; er war einer der wenigen Schauspieler, die problemlos von der Bühne auf Film umstellen und die ganze Bandbreite filmischer Rollen abdecken konnten.
Shi Huis Darstellungskunst lebt von Mimik und Gestik. Das Element der Stilisierung entstammt der klassischen chinesischen Oper, Shi Huis Spiel aber erreicht eine Natürlichkeit, die aus den mimischen, sprachlichen und stimmlichen Mitteln entsteht. Als oberstes Gebot galt für ihn das optimale Spannungsverhältnis zwischen Publikum und Schauspieler. Shi Hui vertrat die Auffassung, dass die Zuschauenden gleich beim ersten Auftritt in Bann gezogen werden müssten, und diese Spannung dürfe im Laufe der Szene nicht nachlassen. Dazu müsse der Schauspieler immer das richtige Mass an Ausdruck finden und das Versteckte, Zurückgehaltene deutlicher und tiefer erscheinen lassen als das Gezeigte. Beim Abgang solle der Schauspieler das Publikum in gespannter Erwartung des nächsten Auftritts zurücklassen. Shi Hui soll die Bühne dermassen beherrscht haben, dass das Publikum selbst dann seine Augen nicht abwenden konnte, wenn er ihm den Rücken zukehrte.

Der Preis der Offenheit
Neben seiner schauspielerischen Tätigkeit war Shi Hui ein reger Autor: Er verfasste theoretische Abhandlungen zu Schauspiel und Drama, nahm zu Fragen der Behandlung von Schauspielern Stellung und veröffentlichte meinungsbildende Artikel zur Tagespolitik: Nahezu zweihundert von ihm verfasste Zeitungs- und Zeitschriftenartikel sind erhalten.
Im Oktober 1949 übernahm die Kommunistische Partei Chinas in der neu gegründeten Volksrepublik die Macht. Alle Sparten der Kunst mussten nun den Grundsätzen des Parteivorsitzenden Mao Zedong entsprechen und den Arbeitern, Bauern und Soldaten dienen. Von 1949 bis 1952 wurden alle Filmproduktionsfirmen in die staatlichen Filmstudios eingegliedert. Obwohl Wen Hua erst 1952 in das Shanghai Film Studio überging, zeigte sich bereits ab 1949 in ihren Werken der Einfluss der neuen Machthaber.
Shi Huis zweite Regiearbeit Mein Leben, nach dem Roman von Lao She, fällt in diese Zeit. Das Buch erzählt in einem tragikomischen Monolog über mehrere Jahrzehnte hinweg das Leben eines einfachen Chinesen. In der filmischen Adaption zeigt sich Shi Huis dramatische Begabung. Der neuen Ideologie entsprechend wurde ein kommunistischer Revolutionär eingefügt, und das Ende des Films weist auf den Anbruch einer neuen Zeit. Shi Hui soll versucht haben, sich gegen diese Änderungen zu wehren. Jedenfalls wurde der Film immer wieder aus politischen Gründen kritisiert.
Der Held seines nächsten Films Kompanieführer Guan war ein Mitglied der Volksbefreiungsarmee. Shi Hui verbrachte dafür zwei Monate mit einer Kompanie. Da jedoch die Hauptfigur in ihrer natürlichen Unkultiviertheit dem offiziellen Bild des Soldaten in keiner Weise entsprach, wurde der Film verurteilt. So wurde auch Shi Hui 1951 ein Opfer der ersten Runde öffentlicher Kritik gegen Filmschaffende.
Danach erhielt er nur noch wenige Arbeitsgelegenheiten. Seine beiden unpolitischen Regiewerke Brief mit Feder und Himmlische Hochzeit erreichten jedoch aufgrund ihres hohen künstlerischen Niveaus und ihres Unterhaltungswerts sehr gute Besucherzahlen. In den 1950er-Jahren ging die Filmproduktion Chinas stark zurück. Im Zuge der «Hundert-Blumen-Kampagne», die 1956 zu öffentlicher Meinungsäusserung aufrief, erschienen Artikel namhafter Filmschaffender, unter ihnen Shi Hui, die nach einem kreativen Freiraum für die Kunst verlangten. In dieser Zeit der politischen Öffnung gründete Shi Hui die «Fünf-Blumen-Werkstatt», eine Arbeitsgruppe zur Entwicklung von Filmstoffen. In den wenigen Monaten ihrer Existenz entstanden einige der bemerkenswertesten Produktionen der 1950er-Jahre, so auch Shi Huis letzter Film Nächtliche Schiffsfahrt auf nebligem Meer.

Der Weg eines Kompromisslosen
Im August 1957 begann die «Anti-Rechts-Kampagne», die der Aufbruchsstimmung der «Hundert-Blumen-Kampagne» ein jähes Ende setzte. Ziel war es, die chinesische Gesellschaft von «rechtsgerichteten» Personen, darunter viele Künstlerinnen, Künstler und Intellektuelle, zu säubern. Nach einer «Kritiksitzung» im November 1957 verschwand der damals 42-jährige Shi Hui. Einige Zeit später wurde seine Leiche gefunden.
Mein Leben gilt als Shi Huis Meisterwerk, erzählt es doch in eindringlicher Form auch von seinem persönlichen Dilemma: Trotz herausragenden künstlerischen Leistungen und einem grossen Engagement für die Gesellschaft endete er wie sein Protagonist elendiglich mit «einer Leere im Herzen». Seine Filme aber zeugen immer noch von seinem künstlerischen Talent, seinem Humor und seinem kritischen Blick.
Isabel Wolte

Isabel Wolte kam über ihre Mutter Ursula Wolte, die 1991 die erste Retrospektive mit 40 chinesischen Filmen nach Wien gebracht hatte, zum chinesischen Film. Sie doktorierte 2009 an der Beijing Film Academy über Adaptionen von Weltliteratur im chinesischen Film und lebt heute in Wien und Peking. Neben ihrer wissenschaftlichen Arbeit ist sie als Beraterin für österreichisch-chinesische Koproduktionen tätig.
Isabel Wolte hat die Shi-Hui-Retrospektive kuratiert, die Kurztexte verfasst und die deutschen Untertitel erstellt. Sie wird am 21. Februar vor der Aufführung von Mein Leben eine Einführung in Shi Huis Schaffen geben und am 21. und 22. Februar drei weitere Filme präsentieren; Details siehe Programmübersicht.