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Das Fiktionale im Dokumentarfilm

In der englischsprachigen Welt gibt es für den Dokumentarfilm ein Synonym, das jedes Ersonnene von vorne herein ausschliesst: Non-Fiction Film. Mutwillig Fiktionales in diesem Genre wäre demnach per definitionem eine Regelverletzung. In seiner diesjährigen Vorlesungsreihe geht unser Filmdozent Fred van der Kooij verschiedenen Formen dieses «Einrichtens der Wirklichkeit» nach und fragt nach den komplexen künstlerischen, aber auch ethischen Implikationen und Konsequenzen. Nach dem Filmwissenschaftler Bill Nichols geht der Spielfilm erzählerisch vor, der Dokumentarfilm dagegen argumentativ. Nur wäre dann das seit einigen Jahren so beliebte Genre des Dokudramas ein filmisches Oxymoron. Es sei denn …
Während des Burenkriegs (1899–1902) tauchten erstmals fiktionale Nachrichten im Kino auf, als nämlich ein Kameramann, statt den weiten Weg nach Südafrika auf sich zu nehmen, ein Scharmützel im Garten hinter seinem Haus inszenierte. Das machte Schule. Obwohl London nur einen Steinwurf entfernt ist, produzierte Georges Méliès zwei Jahre später die Krönung des englischen Königs Edward VII in seinem Pariser Studio und nannte das Ganze korrekterweise «un double». Das Simulieren wurde immer perfekter, sodass die nachgestellten Bürgerkriegsszenen in D. W. Griffiths The Birth of a Nation (1915) echter aussehen als die authentischen Fotos von Matthew Brady, auf denen sie basieren, und zwar aus dem schlichten Grund, dass Brady damals noch derart lange Belichtungszeiten benötigte, dass er sein Objektiv nur auf tote Soldaten richten konnte.
Warum nicht umgekehrt Spielfilmen einen dokumentarischen Anstrich verleihen, meinten die sowjetischen Filmemacher; und bald verstieg sich Eisenstein zur Behauptung, sein Panzerkreuzer Potemkin (1925) sehe ja aus wie ein Wochenschaubericht. Wie stolz wäre er gewesen, hätte er noch vernommen, dass Einstellungen aus seinem Oktober (1928) hin und wieder in Dokumentarfilmen über die Russische Revolution auftauchen, als wären sie authentische Zeitdokumente.
Während das Inszenieren zum Werkzeug des Fiktionalen gehört, kann kein waschechter Dokumentarist seinen Forschungsgegenstand wirklich kontrollieren. So bleibt ihm oder ihr nur die Aufgabe, jene quasi unsichtbare «Fliege an der Wand» zu spielen, als die sich die Pioniere des Cinéma vérité empfanden. Wochenlang soll Frederick Wiseman mit einer Kamera ohne Film in einer psychiatrischen Klinik «gedreht» haben, bis keiner ihn mehr beachtete. Und just das war der Moment, in dem er erstmals eine Filmrolle einlegte – jetzt konnte sein erstaunlicher Titicut Follies (1967) entstehen.
Dafür lügt Werner Herzog wie belichtet – oder wie es manchmal eher den Anschein hat: wie unterbelichtet. In seinem Dokumentarfilm Little Dieter Needs to Fly (1997) öffnet und schliesst ein Mann, der in Kriegsgefangenschaft war, dauernd Türen. Wohl eine traumatische Handlung, meint der gutgläubige Zuschauer. Mitnichten: ein Einfall des Herrn Regisseurs. Wenn es sein muss, etwa wenn zwei Männer durch das Eis eines Sees auf eine dort unter ihnen sich manifestierende Erscheinung blicken, holt er zwei sturzbesoffene Kerle aus einer nächstgelegenen Kneipe und fügt in der Postproduktion noch den Klang von knarrendem Eis hinzu, als stünde der gefrorene See kurz vor dem Einbrechen. Ethisch etwas heikel, werden Sie sagen. Vielleicht, aber in der gleichen Grauzone operiert auch Peter Greenaways Rembrandt’s J’Accuse (2008). Dort dichtet er seine Bildbetrachtung der «Nachtwache» des grossen Malers im Handumdrehen zu einem Krimi um, dessen hemmungslose Spekulationen er selber am meisten zu glauben scheint. Ich aber meine, erst wenn man erkennt, dass das alles nur heisse Luft ist, wird die an sich höchst erfinderische «Beweisführung» richtig zu einem Vergnügen. Denn ästhetisch gesehen ist die Wildheit einer Behauptung nicht selten das Salz in der Suppe. Es gibt sogar ein bemerkenswertes Genre im Dokumentarfilm, das das Lügen zur Ehrensache erklärt hat: das Mockumentary. Dessen wohl brillanteste Gestalt findet sich in Opération Lune (William Karel, 2002), wo «nachgewiesen» wird, dass die US-amerikanische Mondladung eine einzige grandiose Verschaukelung war, die in Wirklichkeit von Stanley Kubrick in einem Filmatelier inszeniert worden war. Seine Überzeugungskraft bezieht der Film nicht zuletzt aus der Tatsache, dass er von Henry Kissinger bis Donald Rumsfeld die ganze damalige Verbrecherbande aus dem White House als Zeugen aufbieten konnte. Und solche Subjekte können bekanntlich nicht lügen, selbst wenn sie wollten. Deshalb ist der vielleicht nachhaltigste Witz am Ganzen bei YouTube zu finden, wo man bis heute auf Stellungnahmen von Leuten trifft, die nach wie vor glauben, dass die Mondlandung nie stattgefunden hat, und als Beweis eben jene Interviews aus William Karels souveräner Verhohnepipelung vorführen.

Kontamination mit Fiktion
Aber hin und wieder gelingt es Filmemachern, die Wahrheit ernsthaft herbeizulügen, indem sie ihre Dokumentarfilme mit Fiktion kontaminieren. Etwa Errol Morris’ The Thin Blue Line (1988) (läuft in der Reihe «Das erste Jahrhundert des Films: 1988»), wo mit allen stilistischen Tricks des Fiktiven am Ende ein realer Mordfall gelöst werden kann.
Doch nicht jeder Dokumentarfilmer lässt sich zwecks Aufklärung so ohne Weiteres in die Karten schauen. In I’m Still Here (2010) betreibt der wunderbare Schauspieler Joaquin Phoenix eine Selbstdemontage mit einer derartigen Brutalität, dass mir die Spucke wegblieb und ich endlos im Internet herumirren musste, bis sogar ich einzusehen hatte, dass das Ganze wirklich ein einziger Schwindel war.
Es kann während der Spieldauer eines Dokumentarfilms auch zu radikalen Haltungsänderungen kommen, und zwar immer dann, wenn die Wirklichkeit sich einfach nicht länger zurückhalten kann und den Machern in die Parade fährt. In Jean-Xavier de Lestrades erstaunlichem Soupçons (2004) geschieht das sogar gleich mehrmals. Oder wenn der Autor plötzlich seine eigene Geschichte nicht mehr glaubt. So unlängst erst geschehen mit Andrej Nekrassow, einem gestandenen Dokumentaristen, der sich bis jetzt im Westen einen Namen gemacht hat als Ritter von der traurigen Gestalt im Kampf gegen russische Windmühlen. Während der Dreharbeiten an seinem letzten Film, The Magnitsky Act – Behind the Scenes (2016), bekam er plötzlich Zweifel am Wahrheitsgehalt seiner aktuellen Sensationsstory sowie an der Zuverlässigkeit seines Hauptinformanten. Und da es ihm nicht gelang, seine Zweifel zu zerstreuen, sprang er kurzerhand über den Schatten seiner eigenen politischen Überzeugungen und fing selbstständig zu recherchieren an. Mit der Folge, dass das Resultat umgehend im Giftschrank der kalten Krieger verschwand. Keine der mitproduzierenden Fernsehanstalten hat es bis jetzt gewagt, den Film auszustrahlen.
Aber lassen wir vorerst das Kino im Dorf. Denn nach wie vor pflegt der wirklich lupenreine Dokumentarfilmer die Tugend der engagierten Zurückhaltung, während ein Spielfilmregisseur dauernd eingreift und deshalb gar keine Tugend braucht. Und dennoch, es ist schon etwas dran an jenem Bonmot, das einmal ein Kenner der Materie prägte: «Der Dokumentarfilm ist halt eine Fiktion wie keine andere.»
Fred van der Kooij


Fred van der Kooij, 1948 in den Niederlanden geboren und seit 1972 in Zürich wohnhaft, komponierte und setzte sich mit Musiktheorie auseinander, bevor er sich dem Film zuwandte. Seither ist er als Filmemacher und als Filmdozent u. a. an der Filmakademie Baden-Württemberg in Ludwigsburg tätig und publiziert regelmässig zu film- und musiktheoretischen Themen. Seit 2007 hält er im Filmpodium jeden Herbst eine fünfteilige Vorlesungsreihe.