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Maggie Smith

Wer sie mit A Room with a View entdeckt hat oder sogar erst aus Downton Abbey kennt, kann sich fast nicht vorstellen, dass Maggie Smith einmal jung war. Vor sechzig Jahren stand die 1934 geborene Varieté- und Theaterschauspielerin in Nowhere to Go zum ersten Mal vor der Kamera – in einer Rolle, die in ihrer Ambivalenz viele spätere vorwegzunehmen scheint: forsch und scheu, risikofreudig und ängstlich zugleich, ein gutbürgerliches Mädchen mit einem Hang zur Halbwelt. Unsere Retrospektive zeichnet die vielseitige Laufbahn der Grand Old Lady des britischen Kinos nach. Weltweite Popularität erlangte Dame Maggie Smith durch die Harry-Potter-Filme und die TV-Serie Downton Abbey. Ihre zaubernde Schulmeisterin Professor Minerva McGonagall repräsentiert sowohl Strenge als auch eine wohlwollende, typisch britische Fairness. Die griesgrämige adlige Witwe Violet Crawley verdankt ihre Beliebtheit den pointierten, ironischen Bemerkungen, mit denen sie oft das letzte Wort behält. Autoritätsfiguren und snobistische Ladies gehören zu Maggie Smiths typischen Rollen. Schlank und hochgewachsen, besitzt sie eine majestätische Präsenz, obwohl sie kaum je Königinnen spielte. Stattdessen ist sie oft als stolze Dame zu sehen, beispielsweise in Gosford Park (2001). Als Lady Trentham jammert sie einem aristokratischen Glanz nach und schikaniert gleichzeitig genüsslich ihre Umgebung. Auch ihre Ordnung schaffenden und Disziplin einfordernden Haushälterinnen, Gouvernanten und Gesellschafterinnen wirken häufig wie vornehme Ladies, die sich der eigenen Überlegenheit sehr wohl bewusst sind. Der nasale Ton ihrer theatralischen Stimme eignet sich vorzüglich für Anweisungen und unterstreicht zugleich die Grandiosität dieser Damen.

Hinter der Arroganz die Verletzlichkeit
Viele ihrer Figuren zeigen ein schroffes, ja brutales Verhalten. Manche machen sich lächerlich, weil sie ihre Arroganz fast schon karikaturenhaft auf die Spitze treiben. Dabei kommt immer wieder eine Verletzlichkeit zum Tragen, welche diese Frauen in einem berührenden Licht erscheinen lässt. So erleben wir Lady Trentham in ihren unsicheren Momenten alleine auf ihrem Zimmer, wo sie sich mit Gurkenscheiben auf den Lidern um ihr vergängliches Selbst kümmert. Als Mrs. Medlock in The Secret Garden (1993) realisiert, wie ineffektiv ihr engstirniges Regime ist, zerbricht ihre Maske und die einstige Tyrannin wird von Schluchzen durchgeschüttelt. Auch die alternde ehemalige Opernsängerin in Quartet (2012) wirkt in ihren Diva-Allüren harsch und sogar grausam und entpuppt sich gleichzeitig als eine zerbrechliche Grande Dame. Statt über die Steifheit und Verblendung dieser Figuren zu lachen, empfinden wir gerade wegen ihrer Fragilität Sympathie.

Meisterin der Wandlungsfähigkeit
Seit ihrem ersten Auftritt im britischen Noir-Thriller Nowhere to Go (1958) hat sich Maggie Smith durch eine grosse Vielseitigkeit ausgezeichnet. Oft wird ihr Name mit dem Genre der Komödie assoziiert. Unvergessen bleibt sie beispielsweise als egozentrische Lehrerin in The Prime of Miss Jean Brodie (1969), die in ihrem autoritären Grössenwahn ihre Umgebung völlig falsch liest. In California Suite (1978) stellt Smith eine Schauspielerin dar, die sich ob ihrer Oscarnomination zuerst ungläubig zeigt, dann aber jede Fassung verliert, als sie die Auszeichnung nicht erhält. Doch Dame Smith (die für beide Rollen einen Oscar gewann) besitzt nicht nur ein Gespür für das perfekte komische Timing, sondern auch einen Sinn für dunkle Abgründe. The Lonely Passion of Judith Hearne (1987) zeichnet den psychischen Absturz einer Frau mittleren Alters im katholischen Irland nach. Die einsame Protagonistin verliert ihren Glauben und ertränkt ihre abgrundtiefe Verzweiflung im Alkohol. Die verblüffende Wandlungsfähigkeit der Schauspielerin spiegelt sich in ihrem markanten, ausdrucksstarken Gesicht und vor allem in ihren grossen, blauen Augen, die einen durchdringenden Blick, überraschtes Erstaunen ebenso wie eine tiefe Traurigkeit markieren können.
Bereits seit Travels with My Aunt (1972), wo sie, 38-jährig, eine extravagante reife Dame spielt, verkörpert Maggie Smith immer wieder Frauen, die deutlich älter sind als sie selbst. Auch in The Lady in the Van (2015) übernimmt die noch immer jugendlich wirkende Schauspielerin die Hauptrolle der alten Miss Shepherd, einer streitsüchtigen Obdachlosen mit herrschaftlichem Gehabe. Die Auslotung der abstossenden, tragischen und berührenden Seiten dieser Exzentrikerin erlaubt es ihr einmal mehr, die subtilen Nuancen ihrer Schauspielkunst unter Beweis zu stellen. Der Film gilt denn auch als neuer Höhepunkt in Maggie Smiths mittlerweile 60-jähriger Kinokarriere.
Barbara Straumann

Barbara Straumann ist Assistenzprofessorin am Englischen Seminar der Universität Zürich.