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Gus Van Sant: Poet der Intimität

Der Amerikaner Gus Van Sant erzählt in stimmungsstarken Filmen von jugendlichen Aussenseitern und ihrem Lebensgefühl. Unsere Retrospektive verfolgt seinen Weg vom Indie-Kino der achtziger Jahre über Meilensteine wie My Own Private Idaho und Mainstreamerfolge wie Good Will Hunting bis zur Rückkehr zu eigensinnigen kleinen Autorenfilmen. Als rare Leckerbissen sind zudem zwei Programme mit Van Sants Kurzfilmen zu sehen. Die grossen amerikanischen Regisseure leben in der Regel in der Filmmetropole Los Angeles oder in New York, der Hochburg des Independent-Kinos. Gus Van Sant hingegen, 1952 in Kentucky geboren, lebt und arbeitet vorzugsweise in Portland, Oregon, einer grösseren Provinzstadt 800 Kilometer nördlich von San Francisco und 200 Kilometer südlich von Seattle. Hier verbrachte er schon einen Teil seiner Highschool-Zeit, hierhin kehrte er nach dem Kunst- und Filmstudium in Rhode Island wieder zurück, um seine ersten abendfüllenden Spielfilme Mala Noche (1985) und Drugstore Cowboy (1989) zu drehen; drei Autostunden weiter östlich filmte er 1991 die grandiosen Landschaften von My Own Private Idaho, in Portland schliesslich wieder Elephant (2002), Last Days (2004), Paranoid Park (2006) und Restless (2011).
Doch Van Sant ist in seiner Heimatstadt nicht einfach hängen geblieben. Sein buchstäblich exzentrischer Lebensmittelpunkt ist die bewusste Wahl eines Eigensinnigen, der gleichermassen Distanz hält zum geschäftstüchtigen Hollywood wie zum New Yorker Szenechic, weil er sich von niemandem vereinnahmen lassen will, sondern immer für Experimente bereit bleibt. Zu dieser Neugierde auf Neues gehört auch, dass er seine offen gelebte Homosexualität nicht zum Lebensthema gemacht, sondern nur im Frühwerk, im späteren Meisterstück Milk (2008) und jüngst in der TV-Miniserie When We Rise (2017) intensiv bearbeitet hat. Im restlichen Werk hingegen ist die sexuelle Orientierung höchstens ein marginales Thema.
Eine Konstante in Van Sants Schaffen sind hingegen jugendliche Figuren auf der Suche nach sich selbst: verloren anmutende Rebellen, Verwaiste und Verstossene, Junkies und Stricher oder ganz gewöhnliche Highschool-Kids, Skater, Slacker, Jungmusiker, bisweilen auch Junggenies, doch alle mehr oder weniger halt- und orientierungslos. Van Sant filmt sie auf Augenhöhe, urteilt und moralisiert nicht über ihren Lebenswandel, sondern fühlt sich ein in ihr Lebensgefühl. Behutsam verfolgt er ihren Weg und findet in der Aussenwelt die adäquaten Bilder für die Innenwelten: die endlos leeren Landstrassen unter dem gewaltigen Himmel von Idaho, die Baustellen und schrottverstellten Vorgärten Süd-Bostons, die langen Impressionen seiner Heimatstadt, vorzugsweise im Herbst, mit denen er den Titelvorspann seiner Filme gern beginnt. Unübersehbar ist der Szenarist und Regisseur Van Sant auch Maler, unüberhörbar zudem Musikliebhaber (und aktiver Musiker). In seinem Herzen aber ist er vor allem ein jugendlicher Melancholiker geblieben, deshalb ist er seinen Figuren so nah.

Zwischen Autoren- und Mainstreamfilm
Die Laufbahn Van Sants mäandriert zwischen Autoren- und Mainstreamkino. Die ersten drei Langspielfilme, Mala Noche, Drugstore Cowboy und My Own Private Idaho waren Marksteine des jungen «Indie-Kinos» abseits von Hollywood, das ab den mittleren Achtzigern eine neue Blüte erlebte. Parallel zu Van Sant debütierten in jenen Jahren Regisseure wie Jim Jarmush, Spike Lee, Steven Soderbergh oder John Sayles, und das mit aufblühende Sundance Festival (das schon seit 1978 existiert, aber erst seit 1991 so heisst) verschaffte ihnen die ideale Plattform.
Die formale Entwicklung in den ersten drei Filmen Van Sants ist beindruckend: Kapriziert sich Mala Noche noch auf sprunghafte Vignetten aus dem Liebesleben eines schwulen Schnapsladenverkäufers, mit dem die Kamera bei natürlichem Licht durchs nächtliche Portland wankt, so ist die Junkie-Ballade Drugstore Cowboy schon eine – noch etwas flapsige – Übung in «straight storytelling». My Own Private Idaho schliesslich, das erste Meisterwerk, zieht alle Register, erzählt frei assoziativ und doch unmittelbar einleuchtend. Mit dem Einbezug von Shakespeare-Motiven schafft es zudem einen Raum der kulturellen Anspielungen und Brechungen, die den Film so spielerisch wie vieldeutig schillern lassen.
Hatte Van Sant bei Drugstore Cowboy und My Own Private Idaho schon mit den Jungstars Matt Dillon, River Phoenix und Keanu Reeves gearbeitet, so war er nach dem Preissegen für den Idaho-Film reif für seinen ersten Topstar, Nicole Kidman, und für die schwarze Komödie To Die For (1995), mit der er sich dem Mainstream annäherte. Vollends beim Mainstream kam Van Sant schliesslich mit Good Will Hunting (1997) an, der berührenden Ballade vom störrischen Working-Class-Mathe-Genie. Der Film wurde neunfach oscarnominiert und spielte allein an den Kinokassen 140 Millionen Dollar ein. Nach einem derartigen Coup stehen einem Regisseur in Hollywood sämtliche Türen offen.
Doch was tat Van Sant? Er nutzte den Moment nur, um endlich die Realisierung einer fixen Idee durchzustieren, die er schon länger hegte: ein bildgetreues Remake von Hitchcocks Psycho, Einstellung für Einstellung. Für Fans wie für Kritiker war das ein Sakrileg und damit ein programmierter Flop, nach dem sich Van Sant nur noch mit Finding Forrester (2000), einer hübschen, aber etwas belanglosen Variation auf Good Will Hunting, aus seiner ersten Hollywood-Affäre ziehen konnte. Mit Elephant begann nun die Reihe seiner mehrheitlich starfreien Filme mit kleinem Budget und grosser Freiheit (Gerry, Last Days, Paranoid Park, Restless). Lieber drei statt dreissig Millionen Budget und entsprechend weniger Druck, das Geld wieder einzuspielen – so lautete Van Sants erklärte Devise in jener Phase. Sie erlaubte es ihm, so abschreckende Themen wie das Massaker an der Columbine Highschool anzugehen und die Einsamkeit, die Isoliertheit oder die Selbstentfremdung seiner jungen Antihelden in experimentelleren Formen zu erkunden.

Innehalten und schauen
Van Sant erzählt selten linear und schon gar nie in gleichmässigem Fluss. Weil er vollständig eintauchen will in das Innenleben seiner Figuren, nimmt er sich vielmehr ungeniert die Zeit, die es braucht, um Intimes auszuloten, so etwa die ebenso langen wie heftigen Konfrontationen zwischen Will Hunting und seinem Therapeuten, bei denen die beiden abwechselnd die Façon verlieren. Oder aber die beschwörenden Fahrten, mit denen die Kamera den Teenagern in Elephant durch das Schulhaus folgt, in dem das Massaker stattfinden wird. Auch in einem konventionelleren Film wie dem unterschätzten Promised Land verharrt die Kamera immer wieder auf dem Gesicht des Hauptdarstellers Matt Damon – und registriert dabei all die Nuancen, mit denen dieser die schrittweise Desillusionierung seiner Figur zu erkennen gibt. Auf derlei intime Szenen lässt Van Sant schliesslich gern Bilder des Himmels oder der Landschaft folgen, welche die Stimmung wie ein Echo aufgreifen und ins Äussere vergrössern.
Das Risiko dieses kontemplativen Stils besteht in einer gewissen Trägheit, sofern die Helden keinen starken Antrieb haben oder ihre Motivation letztlich rätselhaft bleibt. Manche Filme Van Sants entwickeln sich deshalb nur langsam, und Werke wie Elephant, Gerry oder Last Days haben die Kritik in leidenschaftliche Befürworter und Gegner gespalten. Ein paar sichere Werte und Geheimtipps gefällig? Selbstredend My Own Private Idaho, Good Will Hunting und Milk, doch wieso auch nicht Paranoid Park, Restless oder Promised Land? Van Sant ist immer für Überraschungen gut.
Andreas Furler

Andreas Furler, Filmjournalist und bis 2013 Koleiter des Filmpodiums, ist Gründer des Webportals cinefile, das 2018 online geht.

Für die gute Zusammenarbeit bei der Retrospektive Gus Van Sant danken wir der Cinémathèque suisse, den Cinémas du Grütli und dem Musée de l‘Elysée.