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Léa Pool

Lebenskrisen und Neuanfänge

Die schweizerisch-kanadische Regisseurin Léa Pool ist Stargast des diesjährigen Pink Apple Festivals. Das Filmpodium widmet der Cineastin, die seit den achtziger Jahren ihren eigenen Weg geht und ein beeindruckendes, vielfältiges Werk vorzuweisen hat, eine umfassende Retrospektive. Festivalleiterin Doris Senn würdigt Léa Pools Schaffen. «Das Leben soll sich in meinen Filmen spiegeln, sei es mein eigenes oder das von den Menschen um mich herum. Filmschaffende, wie alle künstlerisch Tätigen, nähren sich davon, was sie umgibt. Das ist ihre Quelle der Inspiration.» Tatsächlich waren, wie Léa Pool 2008 in einem Interview festhielt, ihr Leben, ihre Erfahrungen immer wesentlich für ihr Schaffen. Eines ihrer ersten Werke zeigt dies anschaulich als Mise en abyme: La femme de l’hôtel (1984) handelt von der Beziehung der geheimnisumwobenen Estelle zur Filmemacherin Andréa. Letztere arbeitet am Porträt einer Sängerin, die im Lauf der Dreharbeiten immer mehr Estelle zu ähneln beginnt. Die titelgebende «femme de l’hôtel» und die Protagonistin des Films im Film stehen je für «Realität» und «Fiktion» und ihre wechselseitige Beziehung.
Viele von Pools Filmen kreisen um Menschen, die an einem Wendepunkt ihres Lebens stehen. So Anne Trister (1986) – Pools erster grosser Erfolg –, der deutlich autobiografische Züge trägt: Léa Pool wuchs in der Westschweiz auf und hat jüdische Wurzeln. 25-jährig brach sie alle Brücken hinter sich ab und wanderte nach Kanada aus, um sich dort wie die Titelheldin in Anne Trister der Kunst – oder besser: dem Filmemachen – zuzuwenden. Darüber hinaus thematisierte dieser Film als einer der ersten Kinofilme jener Zeit lesbische Liebe differenziert und positiv, was ihn zu einem Meilenstein der Lesbenfilmgeschichte macht.
Auch À corps perdu (1988) dreht sich um eine Sinnkrise. Der Fotoreporter Pierre kommt traumatisiert von einer Lateinamerikareise nach Montréal zurück. Die Beziehung zu seinen Liebsten – eine Ménage-à-trois mit einem Mann und einer Frau – ist auseinandergebrochen. Seine bisherige Welt liegt in Trümmern. Léa Pool versinnbildlicht dies mit weiten Landschaften und urbaner Anonymität: Beides fungiert als Echoraum für die existenzielle Verlorenheit ihrer Figuren. Dabei bergen die Krisen immer auch Hoffnung. Die Protagonisten durchlaufen einen Prozess der Wandlung, das filmische Geschehen endet schwebend – wenn die Akteurinnen und Akteure bereit sind für einen Neuanfang. Zum Beispiel in Mouvements du désir (1994), in dem Catherine und Vincent – beide unterwegs zu einem Neustart weit weg von ihrem bisherigen Leben – sich auf einer langen Zugfahrt quer durch Kanada näherkommen.

Emanzipation in und von der Familie
Die Familie als Bezugspunkt, aber auch als Konfliktherd ist immer wieder ein Motiv in Pools Werken: so in Maman est chez le coiffeur (2009), der mit viel Zeitkolorit die sechziger Jahre wieder aufleben lässt. Als die Homosexualität des Vaters ans Licht kommt, verlässt die Mutter die bislang harmonische Kleinfamilie von einem Tag auf den andern, und die drei Kinder sind fortan auf sich gestellt. Oder in La dernière fugue (2010), in dem ein patriarchalischer Vater, todkrank, sich in seinen letzten Tagen zu einer Aussöhnung mit seinem ältesten Sohn durchringt.
Eine dysfunktionale Familie bildete auch den Mittelpunkt in Emporte-moi, in dem Pool 1999 Bausteine ihrer eigenen Biografie verwendet: Der Vater, ein erfolgloser Schriftsteller, tyrannisiert seine beiden Kinder und seine Frau, während sich Letztere bis zur Selbstaufgabe für ihn aufopfert. Die 13-jährige Hanna sehnt sich vergeblich nach der Liebe ihrer Mutter und flüchtet in eine Traumwelt: das Kino Godards, dessen Nana S. in Vivre sa vie ihr zum grossen Vorbild wird. Geborgenheit findet Hanna in der Beziehung zu einem gleichaltrigen Mädchen, für das sie zärtliche Gefühle entwickelt. Mit Emporte-moi realisierte Léa Pool einen ihrer bedeutendsten Filme. Er wurde mehrfach prämiert, unter anderem mit dem Schweizer Filmpreis. Gleichzeitig lancierte sie damit die Schauspielkarriere von Karine Vanasse, die für ihre Rolle als Hanna vielfach ausgezeichnet wurde.

Erfolg und Engagement
Der Erfolg von Emporte-moi sollte Léa Pool den Weg zu zwei englischsprachigen Auftragsproduktionen mit Grossbudget und Staraufgebot ebnen: zum einen Lost and Delirious (2001) über die Liebe zweier Mädchen in einem Internat. Pool siedelt die Handlung in der Gegenwart an, mit Anklängen an den Klassiker Mädchen in Uniform, der 1931 erstmals u. a. mit Erika Mann verfilmt wurde und 1958 erneut; diesmal mit Manns einstiger Partnerin Therese Giehse, Romy Schneider und Lilli Palmer. Pool zeigt aber auch, dass ein Coming-out je nach gesellschaftlichem Umfeld noch immer tragisches Potenzial bergen kann. Mit einem Film fürs breite Publikum, The Blue Butterfly (2004), konnte die Regisseurin die Tür zum kommerziellen Welterfolg aufstossen. Pool erzählt die Geschichte des krebskranken Jungen Pete, der einen letzten grossen Wunsch hat: einen magischen Blauen Morphofalter zu fangen. Dafür nimmt ihn ein Insektenforscher (William Hurt) mit auf eine abenteuerliche Reise durch den Regenwald. Wünsche und Träume sind wichtige Elemente in Pools Filmen und vollbringen – wie hier – mitunter Wunder.
Frauenfiguren und feministisches Engagement prägen Léa Pools Filmschaffen. Das gilt nicht nur für ihre Spielfilme, in denen starke Mädchen- oder Frauenfiguren oft die Hauptrolle spielen. Jüngst wieder in La passion d’Augustine (2015), der emanzipatorische Anliegen und Coming-of-Age-Drama verbindet: Die Nonnen eines Klosters kämpfen für ihre Schule, während die rebellische Schülerin Alice den Tod ihrer Mutter überwinden muss. Auch in ihren weniger bekannten Dokumentarfilmen widmet sich Léa Pool der Rolle der Frau in der Gesellschaft und ihrer Emanzipation: in der Fernsehreihe «Femmes: Une histoire inédite» (1995) über die Geschichte der Frauenbewegung, in Gabrielle Roy (1998), einem filmischen Porträt der bedeutendsten kanadischen Autorin der Nachkriegszeit, aber auch in ihrem ersten Kinodokumentarfilm Pink Ribbons, Inc. (2012), in dem sie, basierend auf dem Buch von Samantha King, die Kommerzialisierung und die Machenschaften hinter der Brustkrebs-Solidaritätskampagne «Pink Ribbons» aufdeckt.
Identitätssuche, künstlerischer Aufbruch, Frauenwelten, Frauenliebe: Das sind die Themen, die Léa Pool über all ihre Filme hinweg begleiten. Mit ihrer bislang rund fünfzehn Titel umfassenden Filmografie spannt Léa Pool einen eindrücklichen Bogen von ihren experimentellen Werken der Anfangszeit über engagierte Geschichten aus der Sicht der Frauen und über lesbische Liebe bis hin zu Familienfilmen, aber auch kämpferischen Dokumentarfilmen.
Doris Senn

Zusatzinformationen: Doris Senn ist Filmwissenschaftlerin und u. a. als Filmkritikerin tätig. Seit 2001 ist sie Co-Kuratorin und Co-Leiterin des schwullesbischen Filmfestivals Pink Apple.