Premiere: Erbarme Dich: Matthäus Passion Stories
Passions-Geschichten von Menschen und Musikern
In einer verlassenen Kirche versammelt sich ein Chor von Obdachlosen, um den Proben zu einer Aufführung der «Matthäus-Passion» von Johann Sebastian Bach beizuwohnen. Diesen eigenwilligen Rahmen verwendet der Filmemacher Ramón Gieling, um in Erbarme Dich: Matthäus Passion Stories die zeitlose Faszination dieses Werks zu erkunden.
Die «Matthäus-Passion» gehört zu den wichtigsten Werken Johann Sebastian Bachs und der christlichen Kirchenmusik überhaupt. Sie hat in unserer Zeit immer wieder auch zu unkonventionellen Umsetzungen herausgefordert, etwa als Ballett oder Inszenierung. Ramón Gieling reiht sich nun in diese Reihe mit einer filmischen Reflexion ein: nicht einem Konzertfilm, sondern einer Nacherzählung von Passionen mit und für Bachs Musik. Der Film verbindet mehrere Ebenen – assoziative Bilder, die Aufführung der Musik in Auszügen mit sparsam dramatisierenden Elementen, vor allem aber Porträts von Menschen, die über ihre intensive Beziehung zur Musik der «Matthäus-Passion» sprechen. Musiker kommen ebenso zu Wort wie andere Künstler, aber auch die Frau, die buchstäblich ihr Leben Bachs Musik verdankt, oder die Obdachlosen eines Chorprojekts. Bekannte wie der Regisseur Peter Sellars und der Chorleiter Simon Halsey stehen neben Unbekannten; der Dirigent Pieter Jan Leusink, dessen Interpretation mit dem Bach Choir & Orchestra als musikalischer roter Faden dient, verbindet biografische und künstlerische Passion besonders eng. Die «Passion Stories» sind daher nicht nur die biblische Passionsgeschichte nach Bach, nicht nur eine Geschichte über menschliches Leiden und Trost, sondern auch eine Geschichte von Leidenschaften: im individuellen Leben und für Bachs Musik.
Warum gerade die «Matthäus-Passion»? 1727 in Leipzig uraufgeführt, war sie zunächst eines der Werke, mit denen Bach seine Amtspflichten als Thomaskantor erfüllte: Kirchenmusik für eine anspruchsvolle Gemeinde, mit zeitgenössischen Dichtungen und in aktueller theologischer Interpretation. Trotzdem sprach sie mitnichten nur zu Leipziger Protestanten des 18. Jahrhunderts, sondern ging nach ihrer Wiederaufführung 1829 in den musikalischen Kanon ein und löste sich vom kirchlichen Kontext. Grund dafür sind nicht nur die ästhetischen Qualitäten eines herausragenden Werkes, sondern gerade jene Momente, in denen Bach – entgegen dem Bild eines «barocken» Künstlers – für den modernen Menschen direkt zugänglich erscheint.
Die «Matthäus-Passion» verbindet den Text des Matthäus-Evangeliums mit kommentierenden Chören und Arien sowie Chorälen als Verkörperung der Gemeinde. Fast scheint sich diese Struktur – die Aussagen von Solisten und Chor kann der Hörer sich zu eigen machen – nun in der Anlage des Films zu spiegeln, da die persönlichen Perspektiven auf die Musik dazu herausfordern, sich mit menschlichen Grundfragen von Trauer, Schuld und Trost auseinanderzusetzen. In Bachs kunstvoller Kombination unterschiedlicher musikalischer Formen sind bereits subjektive Lesarten angelegt. Seine Gegenüberstellung von biblischer Geschichte und Betrachtung spielt schon mit Zeitebenen, Vergegenwärtigung und Erinnerung – was sich wiederum in den heutigen Reaktionen spiegelt. Es lässt sich natürlich diskutieren, ob eine Bebilderung der Darstellungsweise Bachs adäquat ist (sein idealer Zuhörer hätte wahrscheinlich innerlich reagiert) und ob das Werk eher theologisch oder psychologisch gelesen werden sollte – das Potenzial dafür bietet die «Matthäus-Passion» aber allemal, und gerade deshalb lädt Gielings Film dazu ein, ihre faszinierenden Dimensionen heute zu erkunden.
Inga Mai Groote
Inga Mai Groote ist Inhaberin des Lehrstuhls für Musikwissenschaft an der Universität Heidelberg und arbeitet u. a. zu kulturgeschichtlichen Aspekten der Musik.