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Atom Egoyan

Das Medium ist die Massage

Der Zeitgeist hat es vielen Filmemachern angetan. Aber während die meisten nur modebewusst auf ihm surfen, ist Atom Egoyan ihm auf den Grund gegangen. Der kanadisch-armenische Cineast hat schon lange vor dem Internetzeitalter und der heutigen Bilderflut begonnen, sich mit der entfremdenden Mediatisierung unseres Lebens und unserer Gefühlswelt zu beschäftigen. Ein Versicherungsangestellter kümmert sich bei Schadenfällen so liebevoll um seine Kunden, dass sie ihm wichtiger werden als seine auseinanderbröckelnde Familie. Ein Fotograf erkennt erst beim Sichten seines Filmmaterials, dass seine Frau vor seiner Kamera mit dem Reiseführer angebändelt hat. Ein Vater, der seine Tochter verloren hat, sucht Trost in einem Strip-Club, wo ein Mädchen in Schuluniform für ihn tanzt. Ein Pädophiler, der seit Jahren ein Mädchen gefangen hält, weidet sich via Video an der Trauer der ahnungslosen Mutter.
Was ist hier falsch? Oder besser: Was ist hier genau richtig getroffen?
Atom Egoyan hat seit 1977 sechzehn Kinofilme sowie mehrere Kurzfilme und Fernsehproduktionen gedreht, die sich alle auf gewitzte und hintersinnige Weise mit unserer Wirklichkeit und ihren gesellschaftlichen Auswüchsen auseinandersetzen. Wie kaum ein Zweiter findet er eigenwillige und prägnante Symbole und Chiffren für eine Zeit, in der Fetische, Perversionen und Ersatzhandlungen an die Stelle normal-menschlicher Beziehungen und Vorgänge treten. Er weiss, dass es in unserer medienübersättigten Welt unmöglich ist, sich «kein Bild zu machen», aber er weiss auch, was auf dem Spiel steht, wenn man sich der medialen Massage hingibt: Projektionen, im filmischen wie im psychologischen Sinne, verschleiern Realitäten, die sich unversehens rächen können, wenn sie missachtet werden.
Egoyans Bewusstsein für das Nebeneinander verschiedener Realitäten und sein Verständnis für alle Aspekte der Entfremdung und der Verfremdung gründen auch in seiner Biografie: 1960 wurde er in Kairo als Spross armenischer Flüchtlinge geboren. Als «typische Sixties-Eltern» gaben die Egoyans zu Beginn des Kernkraft-Zeitalters ihrem Sohn den Namen Atom. Diese eigenwillige Familie floh ihrerseits vor dem Nationalismus der Nasser-Ära ins westliche Kanada. Atom wollte zunächst Diplomat werden, fand dann aber über das Theater zum Film und zu einer eigenen cineastischen Stimme.
Egoyan bewegte sich in der aufstrebenden neuen Filmszene Torontos: Der Kanadaschweizer Peter Mettler wurde sein Kameramann, der spätere Kultfilmer Bruce McDonald (Roadkill) besorgte den Schnitt; jeder half jedem. Bereits 1984 entstand Egoyans Erstling Next of Kin, in dem ein junger Mann sein reiches, aber hohles protestantisch-angelsächsisches Elternhaus gegen eine einfache, aber lebensfrohe armenische Familie eintauscht. Das Debüt erntete gute Kritiken, doch richtig aufmerksam wurde die Filmpresse 1987 wegen einer Geste von Wim Wenders: Am Festival international du cinéma nouveau in Montreal schenkte Wenders, der für Der Himmel über Berlin ausgezeichnet wurde, den Geldpreis spontan seinem Nachwuchskollegen Egoyan, dessen Zweitling Family Viewing eine Besondere Erwähnung ergattert hatte.

Sex, Lügen und Video
Family Viewing und zwei Jahre später Speaking Parts schilderten die Wechselwirkungen von «sex, lies, and videotape» noch konsequenter und unbequemer als Steven Soderberghs gleichnamiger Palme-d'Or-Gewinner von 1989. Bei The Adjuster (1991) verwob Egoyan zusätzlich Handlungsstränge über das zweideutige Verhältnis des Zensors zu Pornografie und die Brüchigkeit von Fertighaus-Idyllen.
In allen frühen Filmen spielte Egoyans Frau Arsinée Khanjian mit. Mehr noch als andere Mitglieder seines Stamm-Ensembles wirkte sie stilisiert und ikonenhaft. Erst in Calendar (1993), in dem Egoyan selbst umständehalber die Hauptfigur spielte, wirkte sie locker und natürlich. Vielleicht deshalb wurde diese kunstvoll verschachtelte, teilweise dokumentarisch anmutende Geschichte des Fotografen, dessen Frau ihn verlässt, von vielen Kritikern für bare Münze genommen, was Egoyan verblüffte. Anders als manche Regisseure, die ihre Geliebte vor die Kamera stellen, ist er sich der inhärenten Gefahren für das Privatleben bewusst: «Ich habe mich stets gehütet, Arsinée zu idealisiert darzustellen. Sonst liebe ich am Ende das Bild und bin mit der Realität unzufrieden.»
In ebendiese Falle tappen viele von Egoyans Protagonisten. So spielt Exotica (1994) zu weiten Teilen in einem gediegenen Strip-Club, wo Männer sich von schönen Frauen betören lassen, die sie nur ansehen, aber nicht berühren dürfen. Viele Zuschauer, die Exotica für einen Sexfilm hielten, stellten irritiert fest, dass der Regisseur stattdessen ihren Voyeurismus und dessen Risiken zum Thema machte: Wer schauen will, muss im Auge behalten, wie er sieht, um sich im Gesehenen nicht zu täuschen.

Fremde Stoffe, eigene Ideen
Mit The Sweet Hereafter (1997), seiner ersten Romanverfilmung, begann eine neue Phase in Egoyans Schaffen. Nicht dass er sich dem Diktat des Mainstreams gebeugt hätte, im Gegenteil. Er versuchte weiterhin raffiniertes Kino zu machen wie seine Idole Resnais, Antonioni, Bergman und Fellini. «Aber ich habe festgestellt, dass mir das Gestalten von Figuren, mit denen sich der Zuschauer identifiziert, erlaubt, in der Erzählform noch kühner zu werden. Denn wenn man die Figuren kennt, weiss man viel schneller, wie die neue Situation zu verstehen ist.» So ist die Verschachtelung der Zeitebenen in The Sweet Hereafter oder The Captive (2014) noch komplexer als in früheren Filmen, aber dank der starken Darstellerinnen und Darsteller bleibt man auch emotionell dabei.
Seit 1997 hat Egoyan zwischen eigenen Geschichten wie Ararat (2002), Citadel (2006) oder Adoration (2008) und Adaptationen fremder Stoffe abgewechselt, wobei letztere sich gut in sein Œuvre einfügen: In Becketts Monodrama Krapp’s Last Tape (2000) lässt der Protagonist anhand von Tonbandaufnahmen seines jüngeren Ichs ein verpfuschtes Leben Revue passieren. Felicia’s Journey (1999), nach dem Roman von William Trevor, handelt von den fatalen Folgen einer verkorksten Kindheit für das Erwachsenendasein. Where the Truth Lies (2005), die kühl-schicke Verfilmung des witzigen Showbiz-Thrillers von Rupert Holmes, thematisiert das Klaffen zwischen Schein und Sein, Selbstbild und Aussensicht, öffentlichem Auftreten und privaten Geheimnissen. Anne Fontaines erotisches Frauendrama Nathalie... (2003) mutiert in Egoyans Abwandlung unter dem Titel Chloe (2009) zum Kräftemessen zwischen Begehren, Fantasie und Eifersucht im Dreieck.
Verwirrspiele und Rätsel haben Egoyans Werk immer schon in die Nähe des Krimis gerückt. Mit dem Tatsachendrama Devil’s Knot (2013) und mit The Captive ist er noch tiefer in diese Gattung eingetaucht und lotet die Subjektivität von Wahrnehmung und Wahrheitsfindung auch im Bereich des Verbrechens aus. Manche Kritiker mäkeln, diese jüngsten Genre-Filme seien nicht auf der Höhe von Egoyans Meisterwerken der neunziger Jahre. Man kann die Perspektive auch umkehren und feststellen, dass diese Thriller durch die Komplexität von Egoyans Ideen bereichert werden; das Glas wäre dann nicht halb leer, sondern halb voll.
Michel Bodmer

Am Freitag, dem 19. Februar, findet im Anschluss an die Vorstellung von Family Viewing um 18.15 Uhr im Kino ein Skype-Gespräch mit Atom Egoyan statt.