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Best of Benelux

Spitzenfilme aus dem Flachland

Auf der Suche nach Vorbildern schielt das kleine Filmland Schweiz gern nach Dänemark. Genauso aber lohnt sich ein Blick in die Benelux-Länder, weisen diese doch, sowohl was Umfang wie Qualität betrifft, eine erstaunliche Filmproduktion auf. Neben kantigen Autorenfilmen und schrulligen Komödien sind neuerdings auch fantastische Spektakel und Kriegsepen von Hollywood-Format «made in Benelux». Editorische Vorbemerkung
Neben unserem traditionellen Stummfilmfestival präsentieren wir zum Jahresauftakt eine Reihe neuerer Filme aus Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, deren Kino hierzulande kaum wahrgenommen wird. Der belgische Filmjournalist Jan Temmerman schildert in seiner Einführung die erstaunliche Entwicklung der Benelux-Filmproduktion in den letzten Jahrzehnten. Der grosse Bogen, den wir von 1990 bis 2015 spannen, erlaubt uns, einige Werke aus den neunziger Jahren zu zeigen, die moderne Klassiker geworden sind. Doch es gibt auch zahlreiche Filme aus den letzten 15 Jahren zu entdecken, die entweder nie bei uns im Kino waren oder im Wust des Angebots untergingen.
Auch wenn das dortige Filmschaffen von ferne bescheiden erscheint, so mussten wir doch vieles weglassen: Da die Kollegen vom Filmclub Xenix das Werk der belgischen Dardenne-Brüder schon breit gezeigt haben und demnächst Chantal Akerman eine Reihe widmen, haben wir deren Filme kaum bzw. nicht ins Programm aufgenommen. Manche Titel wie Alain Berliners Coming-of-Age-Märchen Ma vie en rose oder Dominique Derudderes TV-Satire Everybody Famous entfielen wegen unklarer Rechteverhältnisse; andere, wie Lucas Belvaux’ famose Trilogie von 2002, hat das Filmpodium bereits gezeigt. Alex van Warmerdam wiederum verdiente eine eigene Reihe, und gerne würde man auch neuen Regisseurinnen wie Nanouk Leopold, Paula van der Oest, Sacha Polak und Urszula Antoniak (mehr) Platz einräumen.
Trotz der Qual der Wahl: Die 21 Benelux-Filme, die wir zeigen, erlauben nicht nur einen Überblick, sondern auch interessante Vergleiche: Wie haben sich Cineasten wie Jaco Van Dormael und Joachim Lafosse entwickelt? Wie gehen niederländische Filmschaffende mit der deutschen Besetzung der Niederlande um? Welches Bild von Afrika zeichnen die Filme der ehemaligen Kolonialmächte – etwa Marion Hänsels Si le vent soulève le sable und Thierry Michels Dokumentarfilm L’homme qui répare les femmes? Wie sieht es mit den Geschlechterrollen bei Marleen Gorris und bei Theo van Gogh aus? Spielt André Jung, wenn er in Le club des chômeurs seine Muttersprache Luxemburgisch spricht, anders als auf Schweizer Bühnen?
Wir hoffen, dass Sie sich nicht nur auf ein Wiedersehen mit Toto le héros und Little Tony freuen, sondern Mr. Nobody und Borgman ebenfalls kennenlernen wollen. So schrullig manche Benelux-Bewohner auch sein mögen, eine Begegnung lohnt sich allemal.

Michel Bodmer


Einführung zur Filmreihe «Best of Benelux»
Seit 2003 hat das Grossherzogtum Luxemburg seinen eigenen Oscar, den «Lëtzebuerger Filmpräis». Weil die luxemburgische Filmproduktion aber zu klein ist – das Land hat knapp 540 000 Einwohner –, wird der Preis nur alle zwei Jahre verliehen. Bis vor einigen Jahrzehnten war es auch in Belgien nicht selbstverständlich, jedes Jahr genügend Favoriten für den nationalen Joseph-Plateau-Preis zu finden. Inzwischen aber hat die belgische Filmproduktion einen derart rasanten Aufschwung erlebt, dass nun jährlich sogar zwei Filmpreise verliehen werden: der Ensor-Preis für Filme aus Flandern und der Magritte-Preis für Werke aus dem französischsprechenden Wallonien. Es ist kein Zufall, dass beide Preise die Namen berühmter Maler tragen, hat die bildende Kunst in Belgien doch eine starke Tradition.

Belgien: Frankophone Autorenfilme, flämische Vielfalt
Der quantitative Zuwachs an Spielfilmen, Dokumentarfilmen und Fernsehserien in Belgien hat mehrere Gründe: Einer davon ist die wachsende Zahl von Fernsehsendern, die dem steigenden Interesse des Publikums für Filme aus heimischer Produktion entgegenkommen. Ein anderer, genauso wichtiger Grund ist der Ausbau der steuerlichen Anreize. Staatliche Subventionen sind nach wie vor von wesentlicher Bedeutung, aber dank des «Tax Shelter» können Filmproduzenten mehr Privatfinanzierung in Anspruch nehmen. Und das funktioniert!
Das ist an sich schon eine gute Nachricht, aber noch erfreulicher ist, dass mit der grösseren Quantität auch eine wachsende Qualität einhergeht. Und das Publikum macht mit: Die früher oft gehörte, etwas herablassende Bemerkung «Nicht schlecht – für einen belgischen Film» ist inzwischen völlig passé. Belgische Produktionen werden immer öfter zu internationalen Filmfestivals eingeladen und erringen dort regelmässig Preise. Die letzten Oscar-Nominationen in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film für The Broken Circle Breakdown von Felix van Groeningen und Rundskop von Michaël R. Roskam sind nur die Spitze des Eisbergs.
Dass es sich bei letzteren um zwei flämische Spielfilme handelt, weist auf ein anderes interessantes Phänomen hin. Lange assoziierte man den belgischen Film im Ausland vor allem mit Werken französischsprachiger Filmschaffender wie Chantal Akerman, Jaco Van Dormael oder Luc und Jean-Pierre Dardenne. Aber das ist Vergangenheit. Flandern hat aufgeholt. Die Filmproduktionen in den beiden Landesteilen zeigen jedoch auffällige Unterschiede: Im französischsprachigen Süden liegt mit Werken von Cineastinnen und Cineasten wie Marion Hänsel, Joachim Lafosse, Bouli Lanners und Lucas Belvaux das Schwergewicht auf dem sogenannten Autorenfilm. Grosse Publikumsfilme werden dort kaum gedreht, es sei denn, jemand wie Benoît Poelvoorde spiele die Hauptrolle, wie in Les convoyeurs attendent und Les rayures du zèbre, zwei Komödien von Benoît Mariage. Seit seiner Hauptrolle in dem ebenso bahnbrechenden wie kontroversen Film C’est arrivé près de chez vous von 1992 ist Poelvoorde in Wallonien wie in Frankreich ein Superstar. Dass im französischsprachigen Belgien weniger kommerzielle und publikumswirksame Filme gedreht werden, liegt aber auch am Import und somit der grossen Konkurrenz aus dem Nachbarland Frankreich.
In Flandern dagegen haben Filme aus Frankreich weit weniger Erfolg und Einfluss, und die flämische Spielfilmproduktion weist denn auch mehr Vielfalt auf: Neben Autorenfilmen entstehen populäre Komödien und andere Genrefilme. An der Spitze der Liste der erfolgreichsten flämischen Produktionen steht der erotische Thriller Loft (2008) von Erik Van Looy mit fast 1,2 Millionen Zuschauern. Es folgen Koko Flanel und Hector, zwei Filme von Stijn Coninx mit dem beliebten Komiker Urbanus in der Titelrolle. Urbanus sorgt auch in den Niederlanden für volle Häuser, dementsprechend erfolgreich sind auch dort seine Filmkomödien. Aber das ist ein Einzelfall. Solche kommerziellen Filme sind – wie in den meisten europäischen Ländern – vor allem für das heimische Publikum bestimmt.

Niederlande: Von Verhoeven bis Van Gogh
Das Kino der Niederlande war jahrzehntelang geprägt von den Dokumentarfilmen von Bert Haanstra sowie den Spielfilmen von Fons Rademakers, der mit De Aanslag (Der Anschlag, 1986) einen Oscar gewann, und Paul Verhoeven, der mit Turks fruit (Türkische Früchte, 1973) und dessen 3,5 Millionen Kinobesucherinnen und -besuchern den bis heute erfolgreichsten niederländischen Film gedreht hat. Mittlerweile lassen aber auch andere niederländische Filmschaffende mit ihren Werken die Kassen im Ausland klingeln, etwa der 2004 von einem Fundamentalisten ermordete Theo van Gogh und die Feministin Marleen Gorris, die 1996 für Antonia einen Oscar bekam. Oder Alex van Warmerdam, der nicht nur im Theater sehr aktiv ist, sondern auch als Schauspieler, Drehbuchautor und Regisseur die Filmwelt mit absurden Tragikomödien wie Abel, Kleine Teun (Little Tony) und dem preisgekrönten Borgman begeistert.
Ganz wie in Flandern ist auch in den Niederlanden eine gesunde Diversifikation zwischen Autorenfilmen einerseits und populären Familiengeschichten (u. a. nach den Bestsellern von Annie M. G. Schmidt) sowie romantischen Komödien andererseits festzustellen. Auffallend ist, dass sich die niederländische Filmindustrie immer wieder erfolgreich mit dem Zweiten Weltkrieg befasst hat, Beispiele sind Werke wie De Aanslag von Rademakers, Het meisje met het rode haar (Das Mädchen mit dem roten Haar, 1981) von Ben Verbong, Oorlogswinter (Winter in Wartime) von Martin Koolhoven oder Soldaat van Oranje und Zwartboek (Black Book) von Paul Verhoeven. Anklang finden auch Adaptationen einheimischer Literatur, etwa Boven is het stil (Oben ist es still) von Nanouk Leopold nach Gerbrand Bakker und der schon genannte Oorlogswinter nach dem Bestseller von Jan Terlouw (dt.: «Mein Kriegswinter») .

Luxemburg: Begehrter Produktionspartner
Und dann gibt es noch den kleinen Bruder Luxemburg. Eingangs war die Rede von der begrenzten Anzahl luxemburgischer Filme. Tatsächlich sind nur wenige Spielfilme in dem mit der deutschen Sprache verwandten «Lëtzebuergesch» gedreht worden. Darüber hinaus aber verfügt das Grossherzogtum über eine blühende Filmindustrie, weil dort – nicht zuletzt wegen des steuerfreundlichen Klimas – sehr viele internationale Koproduktionen gedreht werden. So sind in Luxemburg mittlerweile Dutzende von Produktionsgesellschaften aktiv, die für eine professionelle Infrastruktur sorgen. Das Land verfügt mit dem Film Fund Luxembourg zudem über einen eigenen Unterstützungsfonds, der unlängst auch Le tout nouveau testament, den neuen Spielfilm von Jaco Van Dormael, mitfinanzierte, den wiederum Belgien als Oscar-Kandidat in der Sparte Bester fremdsprachiger Film eingereicht hat. Seit 1997 schickt Luxemburg ebenfalls Filme in dieses Rennen, doch ist die nationale Filmindustrie nach wie vor zu klein, um jedes Jahr ein geeignetes Werk vorzuweisen.
Jan Temmerman

Jan Temmerman ist seit 35 Jahren Filmkritiker für die belgische Tageszeitung De Morgen. Daneben realisierte er Beiträge zum Thema Film für den flämischen Landessender VRT.
Aus dem Niederländischen von Mieke Roete.