Premiere: Les ponts de Sarajevo
Zum 100. Jahrestag des Attentats von Sarajevo, das zum Ersten Weltkrieg führte, lud der französische Filmkritiker Jean-Michel Frodon 13 sehr unterschiedliche europäische Filmschaffende ein, bei einem Anthologiefilm mit dem Titel Les ponts de Sarajevo mitzuwirken. Dieser wurde 2014 als Sondervorstellung in Cannes uraufgeführt.
In die Zeitspanne 1914–2014 fielen in Sarajevo gleich mehrere bewaffnete Konflikte, und so befassen sich manche der Kurzfilme in Les ponts de Sarajevo mit der Figur des Attentäters Gavrilo Princip und den Ursachen des Ersten Weltkriegs, während andere sich eher auf den Bosnienkrieg konzentrieren. Rein dokumentarische Filme stehen dabei neben experimentellen Essays und fiktionalen Vignetten.
Kamen Kalev aus Bulgarien inszeniert die letzte Nacht Franz Ferdinands mit Anspielungen auf Shakespeares «Julius Caesar» (und einem zwielichtigen Gilles Tschudi). Der Serbe Vladimir Perišić schlägt eine Brücke von den Ansichten des 19-jährigen Gavrilo Princip zum heutigen Nationalismus in seinem Land, und Angela Schanelec, eine Vertreterin der Berliner Schule, lässt ein junges Paar Aufzeichnungen von rückblickenden Gesprächen mit Princip lesen. Die despektierlichen Ansichten über nichtdeutsche Völker in Hermann Keyserlings Buch «Das Spektrum Europas» von 1928 dienen dem Rumänen Cristi Puiu (The Death of Mr. Lazarescu) als Grundlage für eine böse Satire über nationalistische Vorurteile. Während Leonardo Di Costanzo eine Fabel über den Ersten Weltkrieg beisteuert, die mit Sarajevo konkret nicht zusammenhängt, kreiert Jean-Luc Godard eine Art Remix von Motiven aus seinen Filmen Je vous salue, Sarajevo (1993) und Ecce homo (2006), die sich bereits mit der Stadt beschäftigt hatten.
Erinnerung und Heimsuchung
Die Bedeutung von Büchern und Erinnerung prägt die Kurzfilme des Katalanen Marc Recha (Petit Indi), der Portugiesin Teresa Villaverde und der in Sarajevo selbst geborenen Aida Begić (Children of Sarajevo, 2013 als Premiere im Filmpodium gezeigt). Der Italiener Vincenzo Marra schildert die Schwierigkeiten eines Paars, das vor 20 Jahren aus Bosnien geflohen ist, zu den daheimgebliebenen Angehörigen zurückzukehren, während der Ukrainer Sergei Loznitsa (In the Fog, 2013 als Premiere im Filmpodium gezeigt; Maidan) mit einem einfachen, aber wirkungsvollen Kniff veranschaulicht, wie die Geister des Krieges die Stadt heute noch heimsuchen. Zwei der stärksten Beiträge gelten der heutigen Jugend der geschundenen Stadt: Die französische Schauspielerin und Regisseurin Isild Le Besco folgt einem kleinen Jungen, der die Katzen und Hunde von Sarajevo am Leben erhält. Ursula Meier lässt den 10-jährigen Mujo einen Fussball vom Sportplatz in den angrenzenden Friedhof kicken, was zu bewegenden Begegnungen führt. Animierte Sequenzen aus der Feder des belgischen Comicautors François Schuiten dienen als Überleitungen zwischen den 13 Kurzfilmen.
Ursula Meiers Beitrag zu Les ponts de Sarajevo, Tišina Mujo, wurde 2014 an den Internationalen Kurzfilmtagen Winterthur als bester Schweizer Kurzfilm ausgezeichnet und 2015 für den Schweizer Filmpreis nominiert. Die Regisseurin wird bei der Premiere am 17. April im Filmpodium anwesend sein und über Les ponts de Sarajevo und ihren Beitrag Auskunft geben.
Michel Bodmer