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John Hurt

Verzweifelter Häftling und grausamer Diktator, schriller Transvestit und verkappter Homosexueller: John Hurt hat die gegensätzlichsten Figuren verkörpert. Nach Ritterschlag und seinem 75. Geburtstag ist es an der Zeit, das Werk des überaus wandlungsfähigen Schauspielers in einer Filmpodium-Reihe zu würdigen. «Vier» – mit abgekämpftem Gesicht und leerem Blick, den ausgemergelten Körper an die Streckbank gefesselt, versucht Winston Smith (John Hurt) die Frage zu beantworten. «Wie viele Finger halte ich in die Luft?», fragt O'Brien erneut. «Vier», wispert der Gefangene, seine Verzweiflung zeigt sich in den weit aufgerissenen Augen. Vergeblich. Die Wahrheit genügt dem sadistischen Wärter in Michael Radfords Dystopie Nineteen Eighty-Four nicht. Unnachgiebig bewegen sich die Enden der Folterbank auseinander, während der Häftling vor Schmerzen aufschreit. Rund zwanzig Jahre später ist derselbe Kopf als Grosskanzler Adam Sutler in V for Vendetta auf überdimensionierten Bildschirmen zu sehen. Sein Blick ist stechend, während er vor Wut geifernd zu seiner Führungselite spricht: «Die Bevölkerung soll wissen, was Terror wirklich bedeutet.» In einer selbstreferenziellen Spiegelung wird aus dem Unterdrückten der Unterdrücker.

Schrill und einfühlsam zugleich
Das Gesicht geschminkt, im rot gefärbten Haar eine Ansteckfeder, den Körper im eng anliegenden silbernen Kleid: So betritt Quentin Crisp im London der 1930er Jahre den Doppeldeckerbus. John Hurt verschmilzt in The Naked Civil Servant mit dem realen Exzentriker, der die betretenen und kritischen Blicke der Mitfahrer als Bestätigung wertet. Ganz anders dagegen die scheue Hauptfigur in Love and Death on Long Island: Heimlich und verlegen schleicht sich der verwitwete Schriftsteller Giles De'Ath ins örtliche Kino, um sich ein weiteres Mal Hotpants College II anzuschauen. In Schicksalsverwandtschaft mit dem tragischen Helden von «Der Tod in Venedig» hatte er ein homoerotisches Erweckungserlebnis, als er das Jugendidol Ronnie Bostock auf der Leinwand erblickte.
«Ich bin der festen Meinung, dass es besser ist zu arbeiten, als nicht zu arbeiten», erwiderte Hurt einmal auf die Frage, ob er einen der über 140 Filme, in denen er mitgespielt hat, bereue. Es ist die unprätentiöse Rückschau auf ein schauspielerisches Werk, das keine Festlegung auf Genres oder Rollentypen kennt, das die gegensätzlichsten Figuren umfasst und damit beeindruckendes Zeugnis gibt von der Offenheit und der fehlenden Berührungsangst des Schauspielers John Hurt. Die Gründe dafür, dass sich seine Arbeit nicht in der Vielfalt erschöpft, die Vielfalt vielmehr Ausdruck seines Talents ist, liegen naturgegeben in seinem Spiel. Seine prägnante Stimme macht ihn zum gefragten Synchronsprecher und Off-Erzähler – sei es im Animationsfilm Watership Down (Martin Rosen, GB 1978) oder in Lars von Triers Dogville (2003). Das Zusammenspiel von Stimme und stechendem Blick lassen seinen Adam Sutler in V for Vendetta als Karikatur George Bushs erscheinen, die das reale Vorbild an Charisma und genussvoller Boshaftigkeit weit hinter sich lässt. Als er den Häftling Max im Gefängnisdrama Midnight Express spielt, ist Hurts Blick dagegen absolut leer, seine Augen glasig und seine Stimme nurmehr ein unverständliches Krächzen. In der Ecke seiner Zelle zusammengekauert, die Arme mit Nadelstichen übersät, bietet er einen erbärmlichen Anblick. Die Rolle bringt ihm 1979 seine erste Oscar-Nomination ein.

Ein Mann für jeden Charakter
John Hurt ist im besten Sinne ein Charakterdarsteller. Er drängt den Figuren nicht seine Person auf, sondern lotet deren Dimensionen aus. Er nimmt sich selbst zurück und lässt so die tragischen, dunklen oder komischen Seiten der von ihm verkörperten Charaktere hervortreten. Besonders packend ist ihm dies in der Darstellung des missgebildeten John Merrick in The Elephant Man gelungen: Hinter der schweren Maske, die jeweils in einer achtstündigen Prozedur aufgetragen wurde, verschwindet der Schauspieler; was bleibt, ist der zu Tränen rührende Ausgestossene. Hurt erspielte sich damit die zweite Oscar-Nominierung.
Türöffner zu Hurts Filmlaufbahn war das Theaterstück «Little Malcolm and His Struggle Against the Eunuchs». Fred Zinnemann wird in Dublin auf den Darsteller des Malcolm Scrawdyke aufmerksam und besetzt 1966 in A Man for All Seasons die Rolle des Hofintriganten Richard Rich mit Hurt. In seinen kurzen Auftritten vermag Hurt den rücksichtslosen Ehrgeiz und die Verlogenheit seiner Figur darzustellen, die den Gegenpol bildet zur moralischen Instanz des Films, dem aufrichtigen Thomas More, der in höfische Ränkespiele geraten ist. Darin zeigt sich ein weiteres Talent Hurts: Er braucht mitunter nur wenig Leinwandpräsenz, um seinen Figuren jenes Gewicht zu verleihen, das sie ins Zentrum des Geschehens rückt. Dies wird besonders in Ridley Scotts Alien deutlich, wenn Hurt als unfreiwilliger Inkubator zwar einem frühen Ende entgegensieht, jedoch bei der Geburt des Aliens entscheidend zu einer der unvergesslichsten Szenen des Films beiträgt.
Ein begeisterter Bewunderer des Theaterstücks «Little Malcolm» und seines Hauptdarstellers war auch der Beatle George Harrison, der sich entschloss, eine filmische Adaptation zu finanzieren. John Hurt bot die Rolle des sich selbst überschätzenden Kunststudenten zum ersten Mal die Möglichkeit, sich in einer Hauptrolle voll zu entfalten. Wenn Little Malcolm mit seinen Kollegen die fiktive Partei der dynamischen Erektion gründet, um die systemkonformen Eunuchen zu stürzen, wird die schäbige englische Vorstadt zur Kulisse imaginierter Überfälle und Gerichtsverhandlungen, bei denen sich Hurt als wahnwitziger Anführer austoben darf.

«Es gibt immer Gründe, einen Film zu machen»
Den endgültigen Durchbruch erlebt Hurt 1975 als Transvestit Quentin Crisp im ursprünglich für das Fernsehen produzierten Film The Naked Civil Servant. Hurts Spiel macht Crisps exzentrische Natur deutlich, ohne ihn blosszustellen: Schminke und Kleidung werden zu Ausdrucksmitteln einer komplexen Persönlichkeit und gehen weit über schrille Schauwerte hinaus. Rund 25 Jahre später nimmt Hurt die Rolle in An Englishman in New York nochmals auf; subtil lassen sich die Veränderungen vom Exoten zur alternden Subkultur-Ikone beobachten.
Das Verschwinden seiner Person hinter der Rolle führt bei Hurt dazu, dass die Nuancen, die feinen Widersprüche der verkörperten Charaktere stärker hervortreten. Besonders deutlich wird dies, wenn seine Figuren extremen Opponenten gegenüberstehen. Als Stephen Ward in Scandal vermittelt er hübsche Frauen an die britische Elite, so auch an den Heeresminister Profumo, von Ian McKellen genussvoll als Lüstling gespielt. Hurt gibt demgegenüber seiner liebenswerten Figur Tiefe und stellt sie als kleines Zahnrad in einem gigantischen Getriebe dar, das sich unaufhaltbar und für Ward mit tragischem Ausgang in Bewegung gesetzt hat.
«Ich habe einigen Schrott gemacht. Das sollte man nicht bereuen. Es gibt immer Gründe, einen Film zu machen, und sei es nur der Drehort», sagte John Hurt einmal rückblickend. Eine Rückschau auf sein Werk offenbart nicht eine Ansammlung schöner Landschaften, sondern einen schauspielerischen Facettenreichtum, der seinesgleichen sucht.
Marius Kuhn

Marius Kuhn ist Filmwissenschaftler und lebt in Zürich.