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Neues tschechisches und slowakisches Kino

Die Cineastinnen und Cineasten der Neuen Welle in der ČSSR wurden nicht nur aufgrund ihres künstlerischen Könnens zu Kultfiguren, sondern auch wegen ihrer mutigen Aufmüpfigkeit. Auf den Schultern solcher Riesen zu stehen, ist bekanntlich schwierig, und so hatte die Generation der tschechischen und slowakischen Filmschaffenden nach der Wende sowohl mit gesellschaftlichen Umwälzungen als auch mit dem Ruhm ihrer Vorbilder zu kämpfen, ehe sie ihren eigenen Weg fand. Wo dieser hinführt, zeigt die Reihe, die wir mit unserer Kokuratorin Barbara Dusek zusammengestellt haben. Nach der Wende herrschte bei den tschechoslowakischen Filmschaffenden nicht nur Euphorie, vielmehr machte sich auch Ernüchterung breit. Zwar konnten sie nun ohne Zensur erzählen, aber die staatliche finanzielle Unterstützung wurde immer geringer, Produktionsstätten wurden privatisiert; das Tschechische Fernsehen avancierte zum grössten Koproduzenten einheimischer Filme. Die Cineasten mussten lernen, nicht nur an Kunst, sondern auch ans Geld zu denken. Manche opferten dem Erfolg an der Kinokasse alles Künstlerische; andere gingen in die Gegenrichtung und riskierten, dass sie nur ein kleines Publikum erreichten und die Kosten nicht eingespielt wurden.
So überrascht es nicht, dass Anfang der neunziger Jahre vor allem populäre Unterhaltungsfilme entstanden. Diese Produktionen waren aber häufig selbst handwerklich unbefriedigend. Auch Filmschaffende der alten Garde versuchten, ihr Können in dieser neuen Epoche zur Geltung zu bringen, vermochten aber – wenn auch formal souverän – oft thematisch nicht zu überzeugen oder erreichten ihr früheres Publikum nicht mehr. Zwar wurden in Prag viele Grossproduktionen wie The Bourne Identity und Casino Royale gedreht; die einheimische Produktion jedoch stagnierte und die Kinobesuche waren bzw. sind rückläufig. Erst als die mittlere oder «samtene» Generation der Filmschaffenden in den achtziger und neunziger Jahren sehr offen von den eigenen Auseinandersetzungen mit der neuen sozialen und politischen Situation zu erzählen begann, besserte sich die Lage etwas. Diese Filme sprachen ein breites Publikum an, ohne Niveau einzubüssen. Ihr internationaler Erfolg war und ist aber eher bescheiden. Wohl gewannen sie Preise an kleineren Festivals, aber globale Aufmerksamkeit wie in den «Glanzzeiten» der Neuen Welle erlangten sie nicht mehr.

Erfolgreiche Zweiergespanne
Den einzigen Welterfolg landeten Sohn Jan (*1965) und Vater Zdeněk Svěrák (*1936), die 1997 mit Kolja den Oscar für den besten fremdsprachigen Film errangen. Dieses intelligente Rührstück wurde teilweise noch mit staatlicher Hilfe produziert. Kolja schildert das Leben unter dem kommunistischen Regime nicht sehr differenziert, aber für jeden verständlich und mit einem politischen Happy End (der Wende von 1989). Das erste Gemeinschaftswerk der Svěráks – das Spielfilmdebüt von Jan, der zuvor Dokumentarfilme gedreht hatte – war Die Volksschule gewesen. Diese leicht autobiografische Geschichte, auch sie schon für einen Oscar nominiert, erzählt den Alltag rund um eine Schule nach dem Zweiten Weltkrieg als spassiges Lausbubenstück.
Ähnlich wie das Svěrák-Duo in den Neunzigern hat das Gespann Jan Hřebejk (*1967, Regie) und Petr Jarchovský (*1966, Drehbuch) im letzten Jahrzehnt die erfolgreichsten Filme geschaffen. Wir müssen zusammenhalten, ebenfalls für einen Oscar nominiert, und Kuschelnester zeichnen stimmungsvoll die Atmosphäre der vierziger bzw. sechziger Jahre. Während im ersteren Film ein Normalbürger zur Zeit der Judenverfolgung von einem tragikomischen Dilemma ins andere stürzt, karikiert letzterer die Mentalität des kleinen Mannes. Manche Sprüche aus Kuschelnester haben ihren Weg in die Alltagssprache gefunden, was auch dem Autor der Buchvorlage «Hovno hoří», Petr Šabach, zuzurechnen ist. Kawasaki's Rose, ein neuerer Film von Hřebejk und Jarchovský, ist ein Drama über Kollaboration, ein komplizierteres Werk, zu dem sich die Autoren von Das Leben der Anderen (D 2006) inspirieren liessen. Hřebejk dreht auch Musikvideos, arbeitet für Fernsehen und Werbung und ist als Theaterregisseur tätig. 2012 hat er Fassbinders «Der Müll, die Stadt und der Tod» in der Prager Inszenierung von Dušan David Pařízek (dem Zürcher Publikum als Schauspielhaus-Regisseur bekannt) als Spielfilm adaptiert.
Auch Hřebejks Kollege Vladimír Michálek (*1956) dreht oft für Werbung und Fernsehen. Sein Spielfilm Der Bastard muss sterben leistet ebenfalls ein Stück Vergangenheitsbewältigung, mit einem Kriegsdrama, in dem kein Krieg stattfindet – ausser jenem in den Seelen der Bewohner eines Dorfes.
Zwar hat David Ondříček (*1969), Sohn des legendären Kameramannes Miroslav (Amadeus, Valmont), an der FAMU Dokumentarfilm studiert; heute dreht er aber mehr Spielfilme – neben den obligaten Brotjobs für die Werbebranche. Sein preisgekrönter Film Einzelgänger schildert seltsame, aber gar nicht so unübliche Beziehungen und Nichtbeziehungen unter tschechischen 30-Jährigen. Nach mehreren munteren Gegenwartsgeschichten nahm auch er sich die fünfziger Jahre vor, diesmal als Film noir: In the Shadow wirkt stimmungsvoll und hochprofessionell, weckt aber neben der Zeitkritik auch Genre-Erwartungen.

Umwege aus der Krise
Grossen Erfolg, nicht nur bei der Kritik, hatte Der Garten des Slowaken Martin Šulík (*1962), obwohl dieser Film von 1995 in bedächtigem Tempo und altmodisch-poetischer Manier erzählt wird, was gar nicht im Trend lag. Šulík zählt denn auch zu jenen Filmemachern, die es sich kaum je einfach gemacht haben. Nach dem Studium an der FAMU geriet der Regisseur Bohdan Sláma (*1967) in eine kreative Krise: Zwei Jahre lang arbeitete er in Deutschland auf einer Pferdefarm und fand so wieder den Weg zum Film. Als erstes drehte er den kompromisslosen Film Wilde Bienen über die kuriosen Bewohner eines abgelegenen Dorfes im Grenzgebiet zu Polen, der inhaltlich wie formal eine Herausforderung für das breite Publikum darstellte. In Die Jahreszeit des Glücks bringt Sláma seinen Protagonisten schon mehr Sympathien entgegen, was ihm das Publikum mit mehr Zuspruch vergalt.
Um das Durchschnittspublikum schert sich der Surrealist Jan Švankmajer (*1934) seit jeher einen Deut; er verfolgt konsequent seine Experimente im Grenzbereich zwischen Real- und Animationsfilm, wobei er sich diverser Inspirationsquellen bedient: Bei Kleiner Otik, einer bösen Satire über die Folgen eines bedingungslosen Kinderwunschs, stand ein Märchen Pate; Verschwörer der Lüste, eine Fetischismusfantasie über beziehungsgestörte Zeitgenossen, ist ausdrücklich Sade, Sacher-Masoch und Buñuel gewidmet.
Regisseurinnen sind auch im tschechischen und slowakischen Gegenwartskino selten; zwei höchst unterschiedliche Cineastinnen sind in unserer Reihe dennoch vertreten: Die Altmeisterin Věra Chytilová (1929–2014) drehte nach der Wende noch mehrere Filme, die jedoch nie die Kraft ihrer frühen Werke erreichten und das Publikum eher kalt liessen. Eine Ausnahme ist Grosse Fallen, kleine Fallen, der heftige Kontroversen auslöste: Filmkritiker argumentierten, Chytilová habe mit dieser Fabel über eine vergewaltigte Frau, die sich an ihren Peinigern rächt, eine wahre Begebenheit unzulänglich umgesetzt, während Feministinnen sich ärgerten, die Regisseurin erweise ihnen einen Bärendienst. Ebenfalls feministisch, aber viel versöhnlicher, sind die Filme von Alice Nellis (*1971). Ein wahres Multitalent – Übersetzerin, Musikerin, Autorin, Theater- und Filmregisseurin –, hat Nellis für das Roadmovie Some Secrets nicht nur das Drehbuch geschrieben, sondern auch die englischen Songs – und einige davon sogar selber gesungen.
Barbara Dusek

Barbara Dusek ist Dramaturgin (FAMU) und freischaffende Autorin.