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Gene Kelly

Aufforderung zum Tanz

Die Biografin und Filmhistorikerin Patricia Ward Kelly ist Gene Kellys Witwe. Sie und Kelly lernten sich 1985 am Smithsonian Institute in Washington kennen, wo er als Moderator und Erzähler einer TV-Sendung auftrat, für deren Drehbuch Patricia zeichnete. Kurz darauf lud er sie nach Kalifornien ein, um seine Memoiren zu schreiben, und sie blieben bis zu seinem Tod im Jahre 1996 ein Paar. Patricia Ward Kelly hat uns bei der Gestaltung dieser Reihe, die Gene Kellys Vielseitigkeit zur Geltung bringen soll, tatkräftig unterstützt und gibt uns einen einzigartigen und persönlichen Einblick in sein Schaffen. Ich hatte das Privileg, während mehr als eines Jahrzehnts fast täglich Genes Worte aufzuzeichnen. Manche dieser Sitzungen fanden als ausgedehnte, formelle Interviews statt, andere waren intimer – hastig auf Cocktailservietten und Zuckertütchen gekritzelte Notizen, während wir uns spätnachts in Pianobars Musik anhörten. Unsere Gespräche deckten im Laufe der Jahre viele Themen ab, doch ein Anliegen stach hervor: wie man sich an ihn erinnern sollte. Obschon er wohl am meisten für seine brillante Tanzkunst und seine fesselnde Präsenz auf der Leinwand bekannt war, wollte Gene eher für seine innovative Arbeit hinter der Kamera anerkannt werden und insbesondere dafür, dass er «die filmische Darstellung von Tanz veränderte».

T-Shirt statt Frack und Fliege
So sagte er mir im Frühjahr 1988: «Ich will keinen Publikumswettbewerb gewinnen. Ich will nicht der Lieblingstänzer der Welt sein. Die Krux ist vielmehr: Wer hat den Tanz beeinflusst? Wer hat ihn verändert? Wer hat ihn in einem Sprung vorwärts gebracht? Das ist das Einzige, womit ich mir einen Namen machen möchte.» Gene war entschlossen, einen besonderen amerikanischen Stil zu schaffen, und er ging dabei gezielt und mit einer anspruchsvollen Methodik vor. Obschon seine Darbietungen auf der Leinwand oft locker und mühelos wirken, waren sie in Wirklichkeit sehr kalkuliert.
«Verärgert» darüber, dass Tänzer in Hollywood immer reich aussahen und in Frack und weisser Fliege auf poliertem Parkett auftraten, wollte Gene stattdessen den «Normalbürger» spielen, in T-Shirt und Loafers. In Hosen, die um Taille und Oberschenkel eng geschnitten waren, und hochgekrempelten Ärmeln konnte er die Muskeln und die athletischen Linien des Männerkörpers zeigen. Er wollte sich dem Balletttrikot so weit wie möglich annähern, dabei aber immer noch wie ein normaler Kerl aussehen. «Solange das Kostüm nicht die Rolle entstellt», meinte er, «bin ich immer der Ansicht gewesen, man solle den Körper vorführen, den Leuten zeigen, was sie beim Tanz sehen.»
Die Herausforderung bestand darin, diese neue Form auf Film zu bannen. Gene nannte die Kamera «das einäugige Monster» und ihre Position im Verhältnis zu den Tänzern war entscheidend. «Man choreografiert für die Kamera», sagte er. «Es ist anders als auf der Bühne. Man muss stets bedenken, dass nur zählt, was die Kamera sieht.» Wie Fred Astaire bestand er darauf, dass die Tanzenden mit der ganzen Figur gefilmt wurden, mit frontaler Kamera und nicht aus schrägen Winkeln, die den Körper verzerrten. Er mied schnelle Schnitte und machte «die Montage in der Kamera», wobei er musikalische Takte verwendete, um die Einstellungen zu verknüpfen.

Die Kamera tanzt mit
Besonders schwierig war es, Tanz in einem zweidimensionalen Medium dreidimensional wirken zu lassen. Indem er mit brillanten Kameraleuten wie etwa John Alton beim «American in Paris»-Ballett zusammenarbeitete, begriff Gene, wie man Licht und Farben einsetzen konnte, um das Auge zu täuschen, so dass die Tänzer plastisch und nicht flach wirkten. Den Tanz auf eine regennasse Strasse hinaus zu verlegen, diente nicht nur der Handlung, sondern brachte eine kinetische Wucht hinzu, die ein wesentliches Ausdrucksmittel von Genes Stil war. «Je höher man springt», sagte er, «und je stärker die Kinetik, desto mehr sieht es aus, als wäre man in einem dreidimensionalen Medium.» Seine Schritte beruhten auf den breiten, offenen Bewegungen der Lieblingssportarten seiner Kindheit, insbesondere Hockey. Gene behauptete, der Schlüssel zur filmischen Darstellung von Tanz sei Bewegung. Damit die Kamera etwas dazu beitragen könne, müsse sie fliessend drehen, meinte er. Sie müsse sich mit dem Tänzer bewegen, «denn so wird das Objektiv zum Auge des Zuschauers, zu deinem Auge».
Gene stellte gerne sein Licht unter den Scheffel und hatte Mühe, seine Leistungen in der Ichform zu beschreiben. Bei einem typischen Resümee sagte er einmal beiläufig: «Ich hab die Dinge so genommen, wie ich sie vorgefunden habe, und als ich damit fertig war, waren sie anders. Das sollte ich mir wohl als Verdienst anrechnen.» Häufig hinterliess er mir Notizen, auf die ich dann in Büchern und anderen Veröffentlichungen stiess; Randbemerkungen, die seine Gedanken zu verschiedensten Themen enthüllten. Oft bildeten diese Markierungen eine Art Fährte, der ich folgen konnte, um ihn besser zu verstehen und Dinge zu erfahren, die er ungern über sich selbst sagen mochte. Als ich nach Genes Tod in «Magill’s Cinema Annual» blätterte, stiess ich auf diesen Abschnitt, den er angestrichen hatte: «Als Choreograf und Regisseur lotete Kelly die Möglichkeiten des Tanzes im Film in einer Weise aus, die das Musical verwandelte und eine Vermählung filmischer und choreografischer Techniken hervorbrachte, die unübertroffen bleibt.»
Obschon es mich aufwühlte, am Rande neben diesen Worten Genes vertraute Wellenlinien zu sehen – sie erinnerten mich gleichzeitig an seine Gegenwart und sein furchtbares Fehlen –, freute es mich zu wissen, dass er eine so angemessene Würdigung seiner Errungenschaften gelesen und zur Kenntnis genommen hatte und dass er daran gedacht hatte, dies mit mir zu teilen.
Patricia Ward Kelly

Patricia Ward Kelly amtiert heute als Sachwalterin des Gene Kelly Image Trust und als Creative Director von «Gene Kelly: The Legacy», einem Unternehmen, das gegründet wurde, um Gene Kellys Kunst weltweit in Erinnerung zu behalten. Sie lebt in Los Angeles und ist dabei, das Buch über ihren verstorbenen Gatten zu vollenden. (Übersetzung: Michel Bodmer)