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Frederick Wiseman

Seit 1967 hat der Amerikaner Frederick Wiseman mehr als vierzig Filme gedreht, in aller Regel Porträts von Institutionen. Der Doyen des beobachtenden Dokumentarfilms ist eine Legende, in der Schweiz kamen bisher aber nur seine Spätwerke La danse und National Gallery ins Kino. Der Regisseur Thomas Imbach, der Wiseman seit langem schätzt, hat die Filme unserer Retrospektive gesehen. Drei Jahre älter als mein Vater, zwei Jahre älter als Jean-Luc Godard, elf Jahre älter als Bob Dylan – Frederick Wiseman arbeitet seit bald fünfzig Jahren unermüdlich am gleichen Werk, einem Drama des absurden Alltags. Wiseman ist der Luther des Kinos, er hört den Leuten aufs Maul; in seinen Filmen bekommt die gesprochene Sprache eine Anschaulichkeit wie sonst selten im Kino. Philosophisch betrachtet könnte die filmische Erforschung des «kommunikativen Handelns» als seine grösste Errungenschaft gelten. Ein gutes Beispiel dafür ist Near Death (1989), in dem Ärzte und Pflegepersonal mit den todkranken Patienten und ihren Angehörigen geduldig den schwierigen Dialog darüber führen, wann und ob es sinnvoll ist, die künstliche Beatmung fortzusetzen oder den Patienten «gehen zu lassen». So wirkt es wie ein forcierter Befreiungsschlag, als der junge Arzt – in seiner Eloquenz erinnert er an den jungen Woody Allen – eines Morgens, nach fünf Stunden Filmdauer, einem Patienten euphorisch eröffnet: «Today is the day, we get this tube out today. Big day today.» Und wie dann dessen Frau den hechelnden Patienten ermutigt: «Charlie, you are breathing on your own, you know.» Erst im Abspann erfahren wir, dass Charlie den Austritt aus der Intensivstation nicht überlebt hat.

Die Welt als Irrenhaus
Am Anfang von Wisemans «Never-Ending Movie» steht der verrückte Auftakt von 1967: Titicut Follies. Es wird nicht das letzte seiner Werke sein, in dem sich die Welt als Irrenhaus entpuppt. Der Film beginnt mitten in einer bizarren Varieté-Show von Gefangenen und Wärtern des Bridgewater State Prison for the Criminally Insane. Als der Gefängnisarzt – mit jugoslawischem Akzent, einem Blinzeltick und glimmender Zigarette im Mund – einem älteren, nackt auf dem Schragen liegenden Gefangenen den Zwangsernährungsschlauch durch die Nase in die Speiseröhre einführt – «swallow, just swallow» –, schneidet Wiseman unvermittelt auf eine Einstellung des alten Mannes, in der er tot im Sarg liegt. Auf solche spekulativen Mätzchen wird Wiseman, von Anfang an sein eigener Cutter, später völlig verzichten. Ganz im Gegenteil entwickelt er eine Dramaturgie, die ihre Höhepunkte stets aus den Szenen selber schöpft: Am Ende des nächsten Films, High School (1968), verliest eine Lehrerin den Brief ihres Ex-Schülers, der in Vietnam kurz vor dem Abflug ins Kriegsgebiet seinen letzten Willen kundtut: Die Schule solle seine «kleine» Lebensversicherung bekommen. Seine Familie finde es bescheuert, was er im Krieg anstelle, doch stehe er nur ein für die Werte von Südvietnam und der freien Welt: «Am I wrong, Dr. Haller?»
33 Jahre später enden Wisemans Filme formal subtiler, inhaltlich aber nicht weniger krass. In Domestic Violence (2001) ruft ein betrunkener Mann die Polizei, weil er es mit seiner Freundin, die erschöpft am Bettrand sitzt, nicht mehr aushalte. Der Polizist hat keine Handhabe, um jemanden wegzuschicken, und wünscht den beiden eine gute Nacht, am besten in getrennten Schlafzimmern. Wiseman überlässt es uns, ob und wie die beiden die Nacht überleben werden. Domestic Violence 2 (2002) spielt vor Gericht; nach quälend langen (196 Minuten), aber fesselnden Verhandlungen zwischen übergriffigen Richtern und verwahrlosten Paaren tritt eine junge Mutter vor und schwört, dass sie nicht mehr an der Anklage gegen ihren Mann festhalte und eine Lösung für das Kind gefunden habe. Der Richter verabschiedet sie mit einem «Dismissed», sie dreht sich um und sagt im Hinausgehen «Have a good day», worauf der Richter ihr fast beschwingt «You too» nachsingt – ein zynischer Abgesang oder ein Funken Hoffnung für die junge Frau?



Meister des «filmischen Pragmatismus»

Frederick Wiseman ist der Anti-Michael-Moore des amerikanischen Dokumentarfilms. Obwohl inzwischen ein Klassiker, war er schon in den sechziger Jahren unzeitgemäss und ging seinen eigenen Weg, unabhängig von der Szene um die Dokfilmer Richard Leacock oder D. A. Pennebaker. Nicht ganz zufällig habe ich meinen ersten Wiseman-Film und ein TV-Porträt Ende der achtziger Jahre im dritten Programm des französischen Fernsehens entdeckt. In der Schweiz, dem Land des «anwaltschaftlichen Dokumentarfilms», interessierte Wiseman noch nicht. Seine Darsteller sprechen nie zur Kamera oder zum Filmemacher mit der Haltung «Jetzt will ich euch von mir erzählen», sondern er beobachtet sie stets in Interaktion oder im Dialog mit den Wärtern, Lehrern, Polizisten, Richtern, Ärzten der jeweiligen Institution. Ebenso verzichtet er auf einen Kommentar aus dem Off. Auf dem Dreh ist er ein Kundschafter, beim Schnitt ein Analytiker. Das Aufregendste dabei ist, dass seine Filme nicht spekulativ funktionieren; nie wird im Voraus erklärt, wer die Guten und wer die Bösen sind. Durch sein insistierendes Beobachten und die kluge Montage werden wir selber zum Entdecken und Analysieren provoziert.
In The Store (1983), meinem ersten Wiseman-Film, hat er sich ein nobles Warenhaus in Dallas vorgenommen. Wir sehen, wie die Upperclass ihre Einkäufe tätigt und die Angestellten ausgelassen ihre Geburtstage feiern. Ich war begeistert und gleichzeitig verblüfft von seiner Arbeitsweise: Diese Kombination von Freiheit beim Drehen und Zuspitzung beim Schnitt, nach der ich in meiner eigenen Arbeit strebte, existierte bereits! Wiseman wurde für mich zum Meister des «filmischen Pragmatismus». Er denkt sich einen Film nicht zuerst aus, sondern er macht ihn. «Meine Projektanträge sind normalerweise eineinhalb Seiten lang.» Den Schauplatz besucht Wiseman erst einen Tag vor dem Dreh, weil er nichts davon hält, sich an den Ort und die Darsteller zu akklimatisieren: «Die lerne ich während des Drehs kennen.» Seit Titicut Follies pflegt er einen minimalen, aber intelligenten Drehstil: Er selber nimmt den Ton auf und führt mit eingeübten Handzeichen seinen Kameramann. Wenn man wissen will, wie er es schafft, dass sich die Leute von der Kamera nicht einschüchtern lassen, meint Wiseman keck: «Es dauert in der Regel vier Sekunden, dann haben sie die Kamera vergessen.» Es stimmt: Je weniger Aufhebens der Filmer selber macht, desto natürlicher verhalten sich die Laien. Die Kamera wird bei Wiseman selber zu einer teilnehmenden Figur, die Entscheidungen trifft, schwenkt, heranzoomt, sich vom Rücken bis zur frontalen Grossaufnahme dreht. Er lässt einen Dreh nicht abbrechen, wenn es langweilig wird: «Denn sobald man abbricht, verpasst man das Beste.» So erwischt er in Essene (1972) den älteren, grantigen Pater, der sich bei einem theologischen Zwiegespräch mit einem jüngeren Kollegen gegen die allzu vertrauliche Verwendung von Vornamen ausspricht («familiarity breeds contempt»), wie er unerwartet die Fliegenklatsche aus der Schublade zieht und damit seinen Groll auf das Pult haut.
Wisemans Erfahrungen und Leitsätze habe ich damals wie ein Schwamm aufgesogen und versucht, sie in meinen Filmen Well Done (1994) und Ghetto (1997) auf meine Art und Weise fruchtbar zu machen. Als ich Wiseman 1997 in Locarno persönlich begegnete, fiel mir auf – er war damals schon 67 –, wie fit und körperlich präsent er war und wie viel grösser und stärker als in meiner Vorstellung. Diese Ausstrahlung hat mich beflügelt, und ich nahm mir vor, sofort mehr von seinen Filmen anzuschauen. Ich danke dem Filmpodium dafür, dass es diesen Wunsch nun erfüllt.
Thomas Imbach

Thomas Imbach ist Filmemacher in Zürich. Mit einer Mischung aus Cinéma-vérité-Kameraführung und rasanten Schnittserien hat er die Grenzen zwischen Spiel- und Dokumentarfilm ausgelotet. Seit Happiness Is a Warm Gun (2001) führt er dies mit fiktionalen Stoffen und einer passionierten Schauspielführung weiter. Seine letzten Arbeiten sind die fiktive Autobiografie Day Is Done (2011) und der englisch-französische Kostümfilm Mary Queen of Scots (2013).