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Titanus

Ein Filmstudio für jede Jahreszeit

Was MGM, Universal, Warner und andere Hollywood-Studios für die USA waren, wollte Titanus für Italien sein: ein Zentrum der Filmproduktion mit eigener Infrastruktur und eigener Handschrift, das selber Stars aufbaut, neue Regietalente entdeckt und dabei gutes Geld verdient. Seit 1904 haben drei Generationen der Familie Lombardo diesem Credo nachgelebt und die Filmgeschichte mitgeprägt. Nach dem Filmfestival Locarno widmet auch das Filmpodium dieser italienischen Traumfabrik eine Retrospektive. Wer sich mit Filmgeschichte beschäftigt, hat selten Grund, die edle Wissenschaft der Heraldik zu Rate zu ziehen. Die Wappenkunde ist ja die Domäne von Historikern, die auf das Mittelalter und die Renaissance spezialisiert sind. Damals dienten Wappenschilde dem Zweck, bei einer Schlacht Freund und Feind auseinanderzuhalten. Bei Turnieren halfen sie den Zuschauern, die Ritter unterschiedlicher Adelsgeschlechter augenblicklich zu identifizieren. Danach büssten Schilde ihre martialische Funktion ein und wurden zu Ehrenzeichen.
Zwei grosse Filmstudios stellten sie als Gütesiegel jeweils vor den Beginn ihrer Produktionen. Wer kennt nicht das Wappenschild, das die Warner Bros. in Hollywood als grafisches Statement im Vorspann ihrer Filme platzieren? Um wie viel raffinierter aber ist das Wappen der italienischen Firma Titanus: Scheinbar aus schwerem Metall geschmiedet, mit schwungvoll verziertem Kopfstück, wirkt es wehrhaft; es könnte zu einer Adelsfamilie gehören, deren Stammbaum weit in die Renaissance zurückreicht. Auch die Musik zum Signet weckt auf subtile Weise Erwartungen: Zunächst ist der verlockende Wirbel eines Xylofons zu hören, der mit Streichern unterlegt ist; erst nach zehn Sekunden ertönt eine stolze Fanfare.

«Der grösste Produzent, Verleiher und Idiot Italiens»
Wie Warner Bros. wurde auch die Titanus als Familienbetrieb gegründet und sie ist es immer noch. Ihre Firmengeschichte ist die schillernde Chronik einer Dynastie, in der die Leidenschaft für das Kino drei Generationen überdauert hat: Das Studio, dessen Name metallurgische wie mythische Assoziationen weckt, wurde von Gustavo Lombardo gegründet und weitergeführt von seinem Sohn Goffredo, bis schliesslich der Enkel Guido das Erbe antrat. Wie alle grossen Produzenten verstanden sie es, mit der Zeit zu gehen und zugleich Anker in die Zukunft zu werfen.
Damit die Dynastie das italienische Kino mehr als ein Jahrhundert lang prägen konnte, mussten ihre Statthalter wandelnde Paradoxa sein: Diplomaten und Strategen, Geizkragen und Verschwender, Propheten und Skeptiker. Sie waren wechselweise Komplizen und Gegenspieler der Regisseure, fungierten als Hebammen und Hemmschuhe.
Entsprachen sie dem landläufigen Klischee vom Filmproduzenten als geschäftstüchtiger Barbar, der die Künstler in einem Wechselbad aus Aggression und Schmeichelei für seine Zwecke einspannt, sich kleinlich über die kostspieligen Wünsche seiner Regisseure beschwert und dabei doch schon im Hinterkopf seinen Profit errechnet? Der Regisseur Riccardo Freda jedenfalls nannte Goffredo Lombardo den «grössten Produzenten, Verleiher und Idioten Italiens» und wusste gleichwohl dessen Risikobereitschaft zu schätzen. Denn die Lombardos stellten sich der furchteinflössendsten Aufgabe im unwägbaren Filmgeschäft: Sie mussten Entscheidungen treffen.

Aufstieg und Fall des Titanen
Anno 1904 wollte Gustavo Lombardo Neapel zum zweiten Zentrum der frühen italienischen Filmproduktion nach Turin machen. Auch als Verleiher konnte er grosse Erfolge verbuchen. Mit Leda Gys heiratete er eine Schauspielerin, deren Temperament überschäumender, unverblümter, mithin neapolitanischer war als das der anderen Stummfilm-Diven Italiens. Obwohl die Firma 1928 nach Rom umsiedelte, blieb sie dem Geist des Mezzogiorno treu: Ihr erster grosser Nachkriegserfolg Catene (1948) spielte in Neapel. Und Mario Serandrei, der einen Grossteil der Titanus-Produktionen schnitt, stammte ebenfalls von dort.
Während der Ära des Faschismus lag die Produktion fast brach; mit dem Montagefilm Giorni di gloria stand sie jedoch nach Kriegsende aus den (auch moralischen) Ruinen wieder auf. Nach Gustavos Tod 1951 schuf Goffredo eine Infrastruktur nach Hollywood-Vorbild: Die Büros lagen unweit der Stazione Termini. In ganz Rom liess er mehrere Ateliers, Schnitt- und Synchronstudios errichten. Er gründete einen Musikverlag sowie eine eigene Filmzeitschrift. Regisseure und Schauspieler band er vertraglich immer nur kurz- oder mittelfristig an das Studio. Er überwachte jede Phase der Produktion und mischte sich massiv in Drehbucharbeit und Montage ein. In seinem Büro liess er eigens dafür einen Schneidetisch installieren.
In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten produzierte die Titanus annähernd 100 Filme; in seiner Glanzzeit, den fünfziger Jahren, brachte das Studio bisweilen 15 Titel pro Jahr heraus. Um die Risiken gering zu halten, ging Goffredo von Anfang an Koproduktionen ein, vor allem mit Frankreich und Spanien, aber auch mit US-Studios wie RKO und MGM. Diese Praxis gipfelte 1963 in Il gattopardo, für den die Titanus eine Partnerschaft mit der 20th Century Fox schloss. Die Dreharbeiten zu Robert Aldrichs Sodoma e Gomorra verschlangen zur gleichen Zeit das Vierfache des ursprünglichen Budgets und stürzen die Titanus in den Konkurs. 1964 entstand die vorerst letzte Produktion fürs Kino, die Ateliers wurden verkauft, danach konzentrierte sich Goffredo auf den Verleih. Dabei setzte er ebenfalls auf die Mischung aus Vertrautem und Neuem. 1970 brachte die Titanus Dario Argentos erste Regiearbeit L'uccello dalle piume di cristallo heraus, die frischen Wind ins Genre des «Giallo» brachte. Goffredo und sein Sohn Guido entdeckten das Fernsehen und hielten auch in diesem Medium den Dialog mit der Tradition aufrecht.

Die Mischung macht's
Goffredo träumte davon, einen unverwechselbaren Studiostil zu etablieren. Am Neorealismus hatte das Studio wenig Anteil. Gleichwohl reflektierten die Produktionen der Titanus die Erfahrung von Entbehrung und Aufbruch. Von Giorni di gloria an setzten sie sich regelmässig mit dem Zweiten Weltkrieg auseinander. Dramen wie Estate violenta und La ciociara rekonstruieren den Schrecken der Bombennächte und zeigen die Widersprüche auf, die die Gesellschaft durchziehen; De Sicas Film wird 1960 beim Publikum lebhafte Erinnerungen an die Zeit des Mangels wachgerufen haben: Weil es nicht genug Gläser gibt, muss in einer Szene von La ciociara der Wein aus tiefen Tellern getrunken werden.
Das Prestige, das Namen wie Michelangelo Antonioni, Federico Fellini und Luchino Visconti dem Studio brachten, wurde gegenfinanziert mit dem Rückgriff auf populäre Genres. Melodramen von Raffaello Matarazzo liessen die Kasse klingeln; Pane, amore e fantasia von Luigi Comencini und Poveri ma belli von Dino Risi, vom Studio rasch zu Serien ausgebaut, lancierten den Siegeszug der «commedia all'italiana». Mit Roberto Rossellinis Viaggio in Italia hielt gleichsam die filmische Moderne Einzug ins Kino. Dem Drehbuchautor und Dokumentarfilmer Valerio Zurlini gab Goffredo Lombardo die Chance, mit Estate violenta 1959 einen Zyklus von Filmen zu lancieren, in denen sich der moralische Aufruhr einer jungen Generation Bahn brechen konnte. Er erkannte auch früh das Talent von Elio Petri, dessen I giorni contati zu den grossen Studien der existenziellen Krise zählt, von denen das italienische Kino zu Beginn der 60er Jahre Zeugnis ablegte. Das war der Nebeneffekt der Mischkalkulation, welche die Lombardos betrieben: Ihre Filme entwarfen stimmige Zeitbilder, die bis heute überzeugen.
Gerhard Midding

Gerhard Midding arbeitet als freier Filmjournalist in Berlin.