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Kino ČSSR

Perlen vom Meeresgrund

Die Filme dieser Reihe stellen keine vollständige oder repräsentative Übersicht der sogenannten Neuen Welle der ČSSR dar. Es fehlen manche gelungene Werke, die jedoch wohlbekannt sind und/oder im Filmpodium unlängst zu sehen waren. Unsere Ko-Kuratorin Barbara Dusek hat sich auf Filme konzentriert, die neu und wegweisend waren, aufgrund der politischen Verhältnisse aber kaum in westeuropäische Kinos gelangten. Die meisten dieser cineastischen Perlen, die die Neue Welle in den hoffnungsvollen Jahren vor 1968 ans Tageslicht spülte, wurden kurz nach ihrer Entstehung vom Regime versenkt. Gleichsam vom Meeresgrund geborgen, vermögen sie heute noch zu verblüffen und zu verzaubern. Im Januar/Februar folgen neuere tschechische und slowakische Filme. Die Neue Welle entstand in den sechziger Jahren, als die jungen Absolventen der Filmhochschule Prag ihre ersten Filme realisierten. Anders als bei der Nouvelle Vague, dem italienischen Neorealismus oder dem britischen Free Cinema unterstützte in der ČSSR keine Zeitschrift wie «Cahiers du cinéma», «Cinema Nuovo» oder «Sight & Sound» diese Bewegung. Ihre Macher waren zwar befreundet und arbeiteten oft zusammen, aber jeder suchte sich seinen eigenen Weg – solange dieser vom realsozialistischen Pathos wegführte. Nur die Kritik am politischen System war ihren Werken gemeinsam, mal direkter, mal eher verschlüsselt. Paradoxerweise ermöglichte der Staat selbst die Realisation dieser Filme, die in einigermassen selbständigen dramaturgischen Abteilungen entstanden und den damals vereinfachten Bewilligungsprozess ausnutzten. Der ganze Spass endete Anfang der siebziger Jahre mit der sogenannten Normalisation nach dem russischen Einmarsch in der Tschechoslowakei.
Als erster Film der Neuen Welle gilt Die Sonne im Netz von Štefan Uher (1930-1993). Diese poetische und für die Zeit ihrer Entstehung total ungewöhnliche Erzählung über junge Liebe wurde vom Kameramann Stanislav Szomolányi gedreht, dessen Bildgestaltung den mosaikartigen Aufbau des Films unterstützt. Von der anhaltenden Wertschätzung für diesen Film in der Slowakei zeugt die Tatsache, dass der Nationale Filmpreis nach ihm benannt ist.

Kafka und Hrabal standen Pate
Den absurden Verhältnissen in einer absurden Zeit wurde das Kino bisweilen mit jenen Mitteln gerecht, die Franz Kafka für die Literatur entwickelt hatte. Mit einem Minimum an Dialogen etwa brachte Josef Kilian von Pavel Juráček (1935–1989) und Jan Schmidt (*1934) das damalige Lebensgefühl auf den Punkt. Dass ein Film über die Unmöglichkeit, eine gemietete Katze zurückzubringen, als besonders kritisch gedeutet werden kann, spricht Bände über die groteske Paranoia seiner Entstehungszeit. Schon vor der Premiere fast verboten, wurde diese kurze Fabel nach 1968 definitiv unterdrückt. Nur die Schaufenster mit Katzenbildern, mit denen Juráček einen verlassenen Laden in der Prager Altstadt ausgeschmückt hatte, erfreuten noch jahrelang die Passanten. Auch hier unterstützt die expressive Kameraarbeit von Jan Čuřík die Wirkung des Films.
Der tschechische Schriftsteller Bohumil Hrabal diente den Cineasten immer wieder als Stofflieferant. Sein erster Geschichtenband wurde 1965 von Jiří Menzel, Jan Němec, Evald Schorm, Jaromil Jireš und Věra Chytilová (1929-2014) als Perlen auf dem Meeresgrund adaptiert. In der Episode Automat Welt von Chytilová spielt die Hauptrolle Hrabals Freund, der Künstler Vladimír Boudník, der auch das Vorbild für die Erzählung war. Zusammen mit dem Kameramann Jaroslav Kučera baut Chytilová ein reportagehaftes Gebilde um eine tote Frau und eine Hochzeitsfeier, das aber bereits die Stilmittel ihrer späteren Filme aufweist.
Nur einen einzigen Langfilm konnte der Regisseur Ivan Passer (*1933), der als Drehbuchautor bei Miloš Formans Filmen mitwirkte, in der Tschechoslowakei drehen, ehe er 1969 in die USA auswanderte. Trotzdem gilt Intime Beleuchtung als einer der zehn besten tschechischen Filme. Auch hier diente als Vorlage eine Erzählung von Hrabal. Ivan Passer färbt seine bittere Komödie über Gegensätze zwischen Stadt und Land sowie über unterschiedliche Lebensentwürfe mit unterschwelliger Melancholie, auch wenn er subtil und humorvoll vom skurril-realen Alltag erzählt. Die Mitwirkung von Laiendarstellern verleiht dem – durchaus versöhnlichen – Film eine grosse Authentizität. Für die Bildgestaltung, die tatsächlich von intimer Beleuchtung geprägt ist, zeichnet Miroslav Ondříček.

Auszeichnungen und Verbote
Die erste Oscar-Auszeichnung für die ČSSR errang 1966 der Film Das Geschäft in der Hauptstrasse des Tandems Jan Kadár (1918–1979) und Elmar Klos (1910–1993). Als Vorlage diente ein Roman des slowakischen Schriftstellers Ladislav Grosman, eine Tragikomödie über einen kleinen Tischler, der 1942 im slowakischen Staat einen jüdischen Laden samt Inhaberin übernimmt.
Teilweise autobiografisch erzählt Juraj Jakubisko die tragikomische Geschichte zweier Brüder im besten Alter, den frühen Dreissigern, die auch als Christusjahre bezeichnet werden. Jakubisko selbst war damals 28 und probierte in seinem Debütfilm besonders im visuellen Bereich vieles aus. Zusammen mit Kameramann Igor Luther drehte er etwa teilweise auf Filmmaterial, das für die fotografische Tonaufnahme bestimmt war, und erzielte so Bilder mit hohem Kontrast. Formal erinnert die Erzählstruktur an die Anfänge der Neuen Welle und an Die Sonne im Netz.
In Marketa Lazarová, einer Adaptation des gleichnamigen Romans von Vladislav Vančura, erzählt der Regisseur František Vláčil ebenso meditativ wie grausam, mal poetisch und mal grobgeschnitzt, über Liebe und Schuld im Mittelalter, aber nicht nur. Drei Jahre lang hat er an seinem Werk gearbeitet, fast drei Stunden dauert der Film. Fast zehnmal mehr als die Kosten einer normalen Produktion hat Marketa Lazarova gekostet, weil Vláčil als Perfektionist keine Kompromisse eingehen wollte. Das Resultat ist opulente, fast barocke Erzählung – und nicht einfach zu verdauen.
In der Zeitspanne von vierzehn Tagen während der Präsidentschaftswahlen von 1968 filmte der Regisseur Karel Vachek (*1940) in offiziellen und privaten Situationen die Gespräche der Politiker. Wahlverwandtschaften, im Direct-Cinema-Stil auf 16 mm gedreht, ohne Kommentar und Musik, offenbart nicht nur die damalige Atmosphäre und Aufbruchsstimmung, sondern auch die Machtmechanismen der Politik. 1969 wurde der Film verboten.
Auch der Film Alle guten Landsleute ruhte jahrelang im Giftschrank, doch zahlreiche Kopien zirkulierten fleissig unter der Bevölkerung. Das geschilderte Schicksal der Bewohner eines kleinen Dorfes in den vierziger und fünfziger Jahren an der Grenze von Böhmen und Mähren wirkte nämlich stellvertretend für alle Dörfer in der Tschechoslowakei, für die Ohnmacht der kleinen Leute und den Zerfall der dörflichen Gemeinschaft. Der Regisseur Vojtěch Jasný (*1925) wurde 1968 in Cannes mit dem Regiepreis ausgezeichnet.
Wie nicht anders zu erwarten, landete auch Der Leichenverbrenner von Juraj Herz (*1934) direkt nach der Premiere im Jahre 1969 im Tresor und kam erst 1990 wieder ins Kino. Herz mischt Horror, Satire und Drama und erzählt eine Parabel über einen verklemmten Familienvater und Krematoriumsbetreiber, der zum Mörder wird, um gesellschaftlich aufzusteigen. Die expressive Kameraarbeit von Stanislav Milota war die letzte, die er ausführen konnte, denn dieser Film bedeutete das Ende seiner Laufbahn als Kameramann und brachte auch das Aus für die Karriere seiner Frau, der Schauspielerin Vlasta Chramostová, die hier die weibliche Hauptrolle verkörpert.
Als Ester Krumbachová das Drehbuch für die Adaptation von Vítězslav Nezvals Novelle «Valerie a týden divů» schrieb, sollte ihr Exmann Jan Němec es inszenieren. Da er aber nach 1968 absolutes Berufsverbot bekam, übernahm Jaromil Jireš die Regie. Krumbachová, die nicht nur Filmkostüme entwarf, sondern auch Szenografin war und ausserdem schrieb, später als Regisseurin arbeitete und so etwas wie eine Muse der Filmemacher war, zog sich zurück. Diese surrealistische Adaptation einer Parodie auf Schauerromane der Romantik löste damals bei Kritik und Publikum im eigenen Land keine Begeisterung aus und läutete so symbolisch das Ende der Neuen Welle ein.
Barbara Dusek

Barbara Dusek ist Dramaturgin (FAMU) und freischaffende Autorin.